Medien und ihre Rolle im Spiel mit Macht und anderen politischen Kalkülen: Darüber diskutierte der deutsche Philosoph Joseph Vogl kürzlich im Rahmen eines Symposiums in Wien - und führte mit Claus Philipp folgendes Gespräch.

Welche Thesen könnte man aus Ihrer Warte zum Themenkomplex "Medien, Macht, Ground Zero" formulieren?
Joseph Vogl: Zuerst einmal, dass man angesichts der Ereignisse seit dem 11. September avanciertere Medientheorien und die damit verbundenen Analysen wohl etwas zurückstellen muss - weil es hier um elementare Formen der Propaganda, der Desinformation oder Nichtinformation geht. Man befindet sich ja im Krieg. Der 11. September als Medienereignis hat überdies ganz alte Kategorien wieder ins Spiel gebracht. Eine Theatralik der Einfühlung auf allen Ebenen: Verzweiflung, Bestürzung, Trauer, Heldentum, Erhebung. Was sich nicht erfühlen lässt, wird auch nicht gezeigt. Aber gerade da, jenseits des Erfühlbaren, müsste die politische Anschauung und Frage beginnen.

Im Sinne also, wie Alexander Kluge sagte: "Unsere Vorstellungskraft braucht Zeit." Diese Zeit nützt der Politiker, um seine Geschichten und Intentionen zu erzählen und zu vermarkten.

Vogl: Genau. Ein Großteil der politischen Abwicklung besteht darin, Emotionen, Handlungslogiken und Strategien miteinander zu einem Brei zu verrühren. Ein Weiteres starrt einem vom Ground Zero entgegen: die Kluft nämlich zwischen einer fehlenden Evidenz im Bereich der Täter, der Motivationen und Beweise einerseits und einer krassen Anschaulichkeit von Zerstörung und Grauen andererseits. Auf diese Weise produziert das Ereignis einen gewaltigen symbolischen Überschuss, mit dem von Anfang an klar war: Das ist Krieg. "America under Attack." "America at War." Mit solchen Slogans wurde der Terror-Krieg notwendig und im Nachhinein auch irgendwie gerechtfertigt. Eine atemberaubende Wendung. Daran knüpft sich eine mythische Formatierung des Ereignisses, mit der Wiederkehr altbekannter Figuren: der "Barbar", der von außerhalb einbricht und eine Spur der Verwüstung durch die Zivilisation zieht. Das "Böse", das jedermanns Nachbar sein kann. Oder der "Fanatiker" mit seiner verschworenen Gemeinschaft.

Sind für eine Analyse dieser "Formate" nicht gerade Geschichten interessant, die versandet sind? Die Anthrax-Affäre etwa...
Vogl: Das Interessante dabei ist ja die Gleichzeitigkeit und der Konflikt von "offenen" Episoden und solchen, die doch irgendwie zu einem Abschluss kommen. Von fertigen und unfertigen, von wahren, halbwahren und unwahren Geschichten. Das zeigt, dass das Ereignis immer noch passiert, dass der 11. September immer noch sein Gesicht verändert, während das Geschehen über den Erdball hinweg treibt: New York, Afghanistan, Palästina, Irak. . . Dieses Ereignis hat noch keine einheitliche Form, kein einfaches Datum. Der 11. September geschieht immer noch, hier und dort und bis auf weiteres.

Wenn wir bei Begriffen und Slogans bleiben: Dass "War" aber Krieg heißt, ist im Amerikanischen nicht ausgemacht. Auch "Terror" war zwischen Afghanistan und Alabama sehr relativ.
Vogl: Es ist von Anfang an darum gegangen, und eigentlich hat das weit vor dem 11. September begonnen, bestimmte juridische Halterungen des Kriegs und des Völkerrechts zu lockern. Rechtsvernichtung zu betreiben. In diesem Sinn war der seltsame Ausdruck "Terrorkrieg" eine ganz gelungene Erfindung. So wenig man nämlich gegen den Terrorismus Krieg führen kann, so wenig ist der so genannte Terrorkrieg einer, der noch völkerrechtlich gefasst werden kann. Die Unschärfezone dieses Ausnahmezustands, von den Terroristen, von der US-Regierung und auch von der Berichterstattung hergestellt, ist insofern klares Kalkül. Ein Großteil der Berichterstattung besteht darin, uns mit der Gewöhnlichkeit eines Ausnahmezustands jenseits der Grenze zwischen Krieg und Frieden vertraut zu machen.
Da stellt sich dann die Frage, inwiefern - wie Verschwörungstheoretiker behaupten - die Medien im Auftrag der Macht handeln oder ob sie einfach von den Ereignissen voran getrieben werden.
Vogl: In diesem Fall lässt sich ganz einfach sagen, dass Terrorismus ohne Medien gar keinen Sinn macht, nicht funktioniert. Er setzt sich ja immer ins Bild. Und wenn der Terrorismus ein strategisches Ziel verfolgt, dann den Gegner dort zu treffen, wo er sich in seiner eigenen Angst verfängt und reproduziert, und das geht nur über Medien. Insofern ist Terror-Krieg zwangsläufig Medien-Krieg. Die herausragende Leistung Bushs war vor allem, dass er einen Terroranschlag auf Einwohner und Gebäude der USA sogleich zu einem Krieg gegen die Zivilisation und das Zentrum der westlichen Macht uminterpretiert hat. Von da an funktionierten die Bilder, auf denen amerikanische Architektur zusammenstürzt und ruiniert wird, in die Gegenrichtung. Als Kriegseröffnungs-Bilder - und nur als solche - konnten diese verwackelten Zufallsaufnahmen und Privatvideos recycelt werden und jede weitere Operation motivieren.

In einem Text meinten Sie zuletzt, dass nun evident geworden sei, dass nicht nur der Okzident die Welt betrachte, sondern dass sehr wohl auch die westliche Welt von anderen beobachtet werde.
Vogl: Ja, das war wohl auch einer der ersten Schocks, die mit diesen Bildern mitgeliefert wurden: Dass es da überraschenderweise noch externe Beobachter gibt. Dass nicht nur der Westen den Rest der Welt, sondern dass dieser Rest auch den Westen beobachtet. Und ein Datum, an dem dieser bösartige, peinliche Beobachter wiederum ausgeschlossen werden sollte, lässt sich etwa mit der Bombardierung des Büros von Al Jazeera in Kabul festmachen: Al Jazeera ist in Beobachterkonkurrenz zu CNN und den US-Agenturen getreten. Das Büro in Kabul hat seine Koordinaten dem Pentagon mitgeteilt, um nicht beschossen zu werden, und wurde prompt von einer Rakete getroffen.

Angesichts von Ground Zero haben Sie auch über eine "Ödnis" geschrieben, "auf die wir bis auf weiteres starren müssen". Was kann man über so eine Leerstelle medial erzählen?
Vogl: Dazu muss man zuerst die Frage beantworten: Was braucht es, um so eine Stelle zu einem symbolischen Ort zu machen, wie man es jetzt versucht? Ganz ohne ökonomische Hintergründe, ganz ohne teuren Boden und knappen Raum ist das nicht möglich. Keine Ödnis Afghanistans könnte zu so einem symbolischen Ort werden, eben weil es keine Interessenten gibt, die diesen Ort in irgendeiner Weise kreativ gestalten - und teuer machen. Monumente, auch Monumente der Trauer sind immer auch große Investitionen. Das war beim Holocaustdenkmal in Berlin nicht anders. Und beim Ground Zero lässt sich natürlich auch eine weitere Geschichte erzählen, die wesentlich älter ist - und zwar die Geschichte von Zentrum und Peripherie, von der innigen Verbindung zwischen einer Wüstenei wie Afghanistan und einer Metropole wie New York. Es gibt offenbar Monumente der Globalisierung, und wollte man deren Bedeutung zusammenfassen, könnte man sagen: Sie zeigen, dass die Globalisierung ein Titel für Operationen ist, die weltweite Probleme schaffen, ohne sie lösen zu können.
Ground Zero muss überbaut werden, um dies zu kaschieren?
Vogl: Ja. Jedes Monument ist um etwas herum gebaut, das Lyotard den "Widerstreit" nennt: etwas Ungelöstes. In jedem Mahnmal verpuppt und versteckt sich die Frage eines ungeschlichteten Konflikts. Mitten im Zentrum von New York tauchen also die ungelösten Probleme und Schrecken der Peripherie auf. Ein Mahnmal der Globalisierung.

Wie verhalten sich dazu erste Songs oder Filme oder zu 9/11?
Vogl: So naiv, lächerlich oder hilflos sie manchmal erscheinen mögen, in einem sind sie nicht zu unterschätzen: Sie holen den verlorenen individuellen Blick wieder ins Spiel, verstreute Einzelheiten, die man nicht auf einen Nenner bringen kann.

Welche Erzählungen interessieren Sie da?

Vogl: Da wäre in diesem 9/11-Episodenfilm, der in Venedig gezeigt wurde, die Geschichte eines Zeitungsjungen in Afrika, der sich aufmacht, Bin Laden zu suchen. Alle Welt sucht diesen Mann, also liefert man seinen eigenen kleinen Beitrag dazu. Das ist eine konkrete Frage: Was verbindet mich mit Bin Laden? Wie, wo und was suche ich? Wie gerät die große Politik in mein winziges Leben? Oder: ich würde mich aufmachen, Ereignisse aufzusuchen, in denen Zivilgesellschaften auch bei anderen Gelegenheiten fast unvermittelt militärisch werden. Geschichten der Mobilisierungsbereitschaft, die "Jahrhundertflut" . . .
. . . anlässlich derer die Politiker in Österreich schnell das historisch aufgeladene Wort "Wiederaufbau" ins Spiel brachten.
Vogl: Wie in Deutschland, wo man sich nicht etwa mit Bangla Desh und den Überschwemmungen dort vergleicht, die alljährlich und schlimmer passieren, sondern mit den Verwüstungen des Weltkriegs. Plötzlich war das Bild der "Trümmerfrau" wieder da. Oder der Segen der militärischen Aktion. Es gibt offenbar eine latente Katastrophenbereitschaft, über die sich das Gemeinsame, der Zusammenhalt definiert. Eine Katastrophe also, aber auch ein Glücksfall. Sei es ein Unwetter, Bin Laden oder ein Amoklauf wie in Erfurt: Der politische Körper strafft sich, aktiviert seine Immunkräfte, und das geschieht auch mit einer gewissen Mobilmachung. Und nicht bloß im Wahlkampf.

Was wäre das Besondere an diesem deutschen Wahlkampf?
Vogl: Zwei Dinge fallen einem auf: Erstens eine Choreographie auf engstem Raum. Selten sah man Wahlkämpfer, die sich derart angestrengt die Themen gegenseitig aus der Hand schlagen. CDU-Wahlspots arbeiten mit dem Design der Grünen: Multikulti, Benetton-Gesichter, grüne T-Shirts, etc. Offenkundig ist es zu einer Verknappung politischer Themen und Positionen gekom-men: einem ganz engen und umkämpften Markt. Es gibt keinen Überschuss politischer Güter und Einfälle mehr, die kuriosen Produkte von Tierschützern und Veganern ausgenommen. Zweitens - und das betrifft vor allem Stoiber: Erstmals versucht einer, Wahlkampf zu machen, indem er die erprobten und verlässlichen Vorurteile der Leute hinter sich lässt: Ich bin immer ein anderer, als ihr denkt. Wahrscheinlich hat auf dem Gebiet des politischen Theaters eine Art Flexibilisierung durchgeschlagen, die man auch anderswo kennt, eine Aufweichung des Rollenfachs, der symbolischen Grenzen zwischen rechts und links. Das bedeutet: vom alten Kampf zwischen Parteien und Ideologien ist die Moderation einer Talkrunde übrig geblieben.

Dazu kommt aber, bei Stoiber, noch eine relative Ungeübtheit in TV-Duellen nach US-amerikanischem Vorbild?
Vogl: Ja, er hatte noch Schwierigkeiten mit dieser Art von Fiktion, mit Regeln, nach denen man auch die "Quiz-Show" oder "Stadt, Land, Fluss" spielen kann. Aber es gab da noch ein ganz besonderes Problem, die Sorge nämlich, dass dieses Medienereignis, "Duell" oder sonst was, ganz konsequenzlos verstreichen könnte. Daher die Beteuerungen der Sender und Moderatoren vorher, dass etwas ganz Bedeutsames und Spannendes geschehen wird; und daher die Nachbereitung mit Umfragen, Statistik und Outfit-Experten. Und schließlich die große Erleichterung darüber, dass bei aller Dürftigkeit der Veranstaltung ein kleiner Sieger und ein kleiner Verlierer übrig geblieben sind.

Ist diese Form des Duells also schon wieder überkommen?
Vogl: Wahrscheinlich wird das die Zukunft sein. Man hat es jedenfalls schon angedroht. Will man wirklich über Dinge dieser Art nachdenken, muss man nach der Rolle des politischen Streits oder Konflikts fragen, die hier dargestellt werden sollen. Was ist der politische Spieleinsatz? Ist das eine Bühne, auf der noch unsere Sache gespielt wird? Wer kann sich in telegenen Abstraktionen dieser Art wiedererkennen? Man sehnt sich jedenfalls nach der Regie von Stammtischen zurück. Oder nach einem bösen Dritten, einem Trickster und Intriganten, der diese Veranstaltungen stört. In Österreich wird dieser Posten jetzt, nach dem Kollaps von Haider, hoffentlich bald vakant. Man sollte ihn neu und besser besetzen.

Joseph Vogl, geboren 1957, ist Professor für Medientheorie an der Bauhaus-Universität in Weimar. Zuletzt erschien von ihm: "Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen" (sequenzia verlag, 2002). Ein Interview, das Alexander Kluge mit ihm über "Amoklauf" führte, ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Volltext" nachzulesen.

(DER STANDARD; Printausgabe, 14.09.2002)