Bewunderungswürdig bis atemberaubend ist die politische Technik, mit der Schüssel seit letztem Samstag agiert, seit ihm sein Wendeprojekt unter den Händen zerbröselt ist. Gelassen, gefasst, konzentriert verkündete er die Neuwahlen - so als ginge ihn das alles nichts an. Seither präsentiert er sich selbst als die einzig denkbare Kanzlermöglichkeit: "Schüssel, wer sonst?" Dieser Slogan scheint bei seinen Auftritten über seinem Haupt zu schweben. Man könnte aber mit einigem Recht fragen: "Warum noch einmal Schüssel?"Im Februar 2000 ist Schüssel vor die österreichische Öffentlichkeit und seine eigenen Parteispitzen getreten und hat sinngemäß gesagt: "Ich will dieses Risiko mit Jörg Haider und seiner FPÖ trotz aller Bedenken eingehen. Es wird funktionieren." Es hat aber nicht funktioniert. Man sollte annehmen, dass eine politische Führungspersönlichkeit, die alles auf ein Projekt gesetzt hat und damit sichtbar gescheitert ist, daraus die Konsequenzen zieht. Hierzulande ist das etwas anders. Schüssel habe doch Haider "entzaubert", indem er die FPÖ in die Regierung genommen habe, ist jetzt zu hören und zu lesen ("Die jüngste Entwicklung mag für Schüssel ein Pyrrhussieg gewesen sein", schreibt Alfred Payrleitner im Kurier - "doch es war eine notwendige Falsifizierung, eine Klärung"). Das ist eine famose Logik: Man lässt sich (und Österreich) mit einer Partei ein, deren Regierungsunfähigkeit durch die Exzesse ihres Führers seit mindestens zehn Jahren erwiesen ist; man verspricht den großen Reformaufbruch und eine Erneuerung des Landes; und wenn dann die Partnerschaft vom völlig skrupellosen und unzuverlässigen Partner von einem Tag auf den anderen gekippt wird, heißt es: Na bitte, wir haben ihn entzaubert! Wenn man plötzlich den Sessel unterm Sitzfleisch weggezogen bekommt, ist das dann eine "Entzauberung" des Sesselwegziehers? Im Übrigen wollte Schüssel Haider nicht entzaubern, zumindest nicht primär. Er wollte die ÖVP retten. Das ist sogar ein akzeptables Motiv. 13 Jahre die zweite Position hinter der SPÖ hat der ÖVP gar nicht gut getan, sie drohte weit hinter die FPÖ zurückzufallen. Die Koalition mit der FPÖ, die Schüssels Kanzlerschaft mit sich brachte, hat das verhindert. In diesem Sinn hatte Schüssel keine andere Wahl. Und er gibt auch jetzt nicht auf. Er will wieder mit der FPÖ. Das deutet er selbst an, und das sagen langjährige politische Wegbegleiter. Er will der ÖVP (nicht unbedingt sich selbst) den Kanzler erhalten, weil sie sonst untergehen würde. Wenn der Kanzler zu halten ist, indem die Volkspartei stärkste Partei wird - umso besser. Wenn das (realistischerweise) nicht gelingt, dann eben doch wieder ein Pokern um irgendeine Konstruktion mit der FPÖ. Oder mit dem Teil der FPÖ, der sich nach einer Wahlniederlage vielleicht - abgespalten hat. Das wird sich dann schon zeigen. Als politische Technik mag das urcool sei, im größeren Zusammenhang fällt einem dazu das Wort "Hasard" oder sogar "verantwortungslos" ein. Es ist auch die Frage, ob die Rest-ÖVP, die von Haider gründlich die Nase voll hat, da noch einmal mitmachen würde. Aber von einem kann man ausgehen: Schüssel weigert sich, das Scheitern seiner zweieinhalbjährigen Kanzlerschaft, seines Risikoprojekts Schwarz-Blau als Faktum anzuerkennen. Er gibt sich in keiner Weise geschlagen. Er ist fest davon überzeugt, dass sich das Geschick noch wenden lässt. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2002)