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Gedenken an die damals Getöteten und Verschwundenen

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Rauchsäulen über dem Zentrum von Santiago de Chile: Am Morgen des 11. September 1973 attackierten Kampfflugzeuge und Soldaten den Regierungssitz "La Moneda", Salvador Allende, der demokratisch gewählte Präsident, verlor sein Leben. Mit radikalen Reformen, darunter der Verstaatlichung der Kupferminen und weiterer Unternehmen, hatte sich der Sozialist Allende den tödlichen Hass der Oberschicht zugezogen. Putschende Generäle, als deren Führer sich Augusto Pinochet herauskristallisierte, übernahmen die Macht, wobei das Ausmaß der Verwicklung der USA bis heute umstritten ist. Rund 3000 Menschen wurden vom Militärregime getötet oder zum Verschwinden gebracht. Die Zahl der Chilenen, die unter Bedrohung ihres Lebens aus dem südamerikanischen Land flüchteten, wird auf eine Million geschätzt. Etwa 1500 fanden, vor allem durch Vermittlung der UNO und wegen der Aufnahmebereitschaft der Regierung Kreisky, Asyl in Österreich. Sigrun und Herbert Berger, von 1968-73 in Chile sozial aktiv und seither in Österreich um die Opfer der Diktatur bemüht, lassen in ihrem neuen Buch "Zerstörte Hoffnung, gerettetes Leben" an die zwei Dutzend Chileflüchtlinge (von denen viele heimgekehrt sind, manche schon vor der Rückkehr Chiles zur Demokratie 1990) ihr Leben erzählen. Der 11. September 1973 wird von ihnen als ähnlich einschneidender, ihr Leben völlig verändernder Tag beschrieben, wie dies von Überlebenden und Zeugen des Anschlags auf das New Yorker World Trade Center vor einem Jahr bekannt ist. Wir bringen Auszüge dieser Schilderungen: Jorge Fuentes, 1946 geborener Angestellter einer Holzfirma in Santiago und als links-christlicher Gewerkschafter aktiv, holte am Tag des Putsches seine kranke Frau aus dem Spital ab. Auf dem Heimweg, so schreibt er, "kontrollierten Polizisten in Kampfuniform alle Fahrzeuge und schossen mit ihren Maschinengewehren sporadisch in die Luft. Sie erinnerten uns mit ihren Helmen und der schweren Bewaffnung an Filme aus dem Zweiten Weltkrieg." Um elf Uhr vormittags erreichten sie ihre Wohnung. "Wir erstarrten vor Schreck, als wir am TV-Schirm sahen, dass der Regierungspalast von Panzern und Soldaten in Kriegsausrüstung umgeben war, eingetaucht in Rauch und Flammen, die aus dem Dach und den Fenstern kamen. Der Lärm der Hawker-Hunter-Kampfflieger und die Explosionen der Raketen drangen durch das Fernsehen an unser Ohr, und etwas verzögert und abgeschwächt hörten wir es dann auch von draußen." "Im Fernsehen", fährt Fuentes fort, "brachten sie einen Befehl der Militärs nach dem anderen: ,Die Militärs und die Ordnungskräfte haben die Regierung abgesetzt und die Macht im Staate übernommen', hieß es. Und: ,Die Bevölkerung wird aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen!' - ,Männern ist es verboten, lange Haare zu tragen, und den Frauen, Hosen!'" Dann folgten endlose Listen mit den Namen gesuchter Personen - "die Minister der Regierung Allendes, die Parlamentarier der Regierungsparteien, Funktionäre der Gewerkschaften und der Volksorganisationen, Priester und Laienführer der Basisgemeinden." Um 13 Uhr kam die Nachricht, Präsident Allende habe in seinem Büro im Regierungspalast Selbstmord begangen. Fuentes schrie: "Verdammte Lügner, niemals begeht Allende Selbstmord. Entweder er ist im Kampf gefallen, oder die Verräter haben ihn ermordet." Seine Frau schaute ihn verzweifelt an, sie war durch die Krankheit erschöpft und durch die Tragweite der Ereignisse verwirrt. Um 21 Uhr hörte Fuentes eine Verlautbarung der Putschgeneräle, "dass die ,Aktion des Militärs', wie sie das Blutbad nannten, ,unabwendbar war, um unsere christlich-abendländische Gesellschaft zu verteidigen, um das Krebsgeschwür des Marxismus mit den Wurzeln auszureißen und unser Vaterland aus den Fängen des internationalen Kommunismus zu befreien'". Noch heute fragt sich Fuentes: "Ist es möglich, dass die Offiziere nicht wussten, dass ein großer Teil der Wähler der Unidad Popular Christen waren? Wussten sie etwa nicht, dass nur ein Viertel der Anhänger der Regierung und nur 12 Prozent aller Wähler und Wählerinnen Kommunisten waren?" 1974 wurde Jorge Fuentes unter der Anschuldigung verhaftet, er habe Propagandamaterial für die mit Allende verbündete linkschristliche Partei verteilt, dann aber wieder freigelassen. Fuentes verlor seinen Job und entschloss sich, weil er immer wieder vom Militär bedroht wurde, zur Flucht. Über Umwege erreichte er Österreich, wo er 1978 Asyl erhielt. Hart traf es den 1929 geborenen Metallarbeiter José Henríquez, der am 11. September 1973 in der Früh in der Fabrik Mademsa, war, als die Militärs die ersten Anordnungen trafen. "Es wurde uns befohlen, die Arbeitsplätze zu verlassen und nach Hause zu gehen", schreibt Henríquez. "Um elf Uhr begann die Bombardierung des Regierungspalastes Moneda, wo unser Präsident, den unser Volk bis heute beweint, starb. Am 29. September wurden wir aufgefordert, an unsere Arbeitsplätze zurückzukehren, aber das war ein Täuschungsmanöver. Um 8 Uhr früh wurde ich an meinem Arbeitsplatz verhaftet und auf das 12. Polizeikommissariat im Bezirk San Miguel gebracht." Um sieben Uhr abends wurden die Verhafteten den Militärs übergeben. "Wir mussten in einen Bus einsteigen, der innen mit acht Millimeter dicken Stahlplatten ausgekleidet war. Wir lagen am Boden und hörten den Befehl, uns nicht zu rühren, auf jeden, der sich bewegt, würde geschossen: ,Wir haben den Finger am Abzug und wir sind sehr nervös.' Sie fuhren zum Nationalstadion, das als Gefangenenlager diente. Wir stiegen aus und mussten zwischen zwei Reihen von Polizisten, die uns ordinär beschimpften, hindurchgehen. Wir mussten die Bahn durchlaufen, die rund um das Fußballfeld angelegt ist, und kamen dann in die Kabine 7, die sich unter der Ehrentribüne befand." Übernachtet wurde in den Kabinen, die Tage mussten die Gefangenen auf den Tribünen des Fußballstadions verbringen. "Als wir auf der Tribüne saßen, kam ein Mann mit einer Kapuze in Begleitung von drei Soldaten. Der Kapuzenträger sollte die politisch Verantwortlichen benennen. Er kannte die Arbeiter des Betriebs, aus allen drei Schichten. Wenn er auf einen hinwies, wurde dieser an einen geheimen Ort gebracht, um von ihm durch Folter Daten und weitere Namen herauszubringen." "Als ich an die Reihe kam, lasen sie eine Liste von acht Gewerkschaftern von Mademsa vor. Ich sagte, dass ich niemanden aus dieser Liste kenne, darauf schlugen sie mich heftig. Nach jedem Schlag sagten sie, ich müsse sie doch kennen, da ich so viele Jahre in diesem Betrieb gearbeitet habe. Aufgrund dieser Folterungen bekam ich eine Venenentzündung am rechten Bein. Plötzlich fragten sie mich, woher ich komme, und ich sagte, aus der Provinz Cautin. Für einen Moment waren alle still. Dann sagte der, der mich schlug: ,Herr Leutnant, ich schlage diesen Menschen nicht mehr, er kommt aus meiner Provinz und dort haben die Leute keine Ahnung von Politik.'" Am 5. Oktober kam Henríquez (der später nach Österreich flüchtete) zunächst frei. "Vor dem Stadion warteten mehr als 10.000 Menschen, die ihre Angehörigen suchten." (Erhard Stackl/DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 7./8. 9. 2002)