Panorama
Ermittlungspanne und offene Fragen beim Prozess um das Unglück von Eschede
Widersprüchliche Aussagen zu Verbleib des gebrochenen Rades - Teile des Wracks landeten bei Schrotthändlern
Celle - Fragen zur "Vorgeschichte" des bei dem
Zugkatastrophe von Eschede gebrochenen Radreifens und das
Eingeständnis einer Ermittlungspanne bestimmten am Dienstag die
Verhandlung beim ICE-Prozess in Celle. Die Verteidigung hat Zweifel
an der bisherigen Darstellung der Unglücksursache angemeldet. Die nach dem Unfall für die Ermittlungen zuständige
Oberstaatsanwältin Sigrid Kindervater räumte am Dienstag ein, schon
in den Tagen nach dem Unglück am 3. Juni 1998 mit 101 Toten und 105
Verletzten seien etliche ICE-Teile, darunter auch Radsätze, bei
Schrotthändlern gelandet. Erst auf Veranlassung eines Gutachters
seien diese Teile wieder beschafft worden.
Erhebliche Panne
Das Unglücksrad hat sich nach Angaben Kindervaters nicht darunter
befunden. Die Verteidiger der drei Angeklagten sprachen dennoch von
einer erheblichen Panne, die zudem nicht in den Akten vermerkt worden
sei. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass möglicherweise
wichtige Beweisstücke für die Unglücksursache auf dem Schrott
verblieben seien.
Bisher gilt mehreren Gutachten zufolge der Bruch des Radreifens
unter dem ersten Mittelwagen als Grund für das Unglück. Verteidigerin
Susann Westphal sprach in einer Verhandlungspause von "schlampiger
Tatortarbeit". Es könne außer dem Radreifen auch etwas anderes
Ursache des Unglücks gewesen sein - "das können wir jetzt nicht mehr
sicher nachvollziehen".
Die Anwälte stellten am Dienstag auch in Frage, dass das
Unglücksrad in den Monaten vor dem Unfall ohne Unterbrechung unter
dem Mittelwagen des ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" eingebaut war. Damit
könnte aus Sicht der Verteidigung auch die Ursache des Radbruches
nicht allein auf die Abnutzung des Reifens zurückzuführen sein. Der
Vorwurf, die Bruchgefahr durch Abnutzung nicht berücksichtigt zu
haben, ist Kern der Anklage gegen die drei vor Gericht stehenden
Ingenieure der Deutschen Bahn und des Thyssen-Krupp-Konzerns.
Zu klären sei aus Sicht der Verteidiger, ob das Rad zwischen dem
12. Jänner und dem 20. März 1998 montiert war oder nicht. "Die
vorhandene Dokumentation lässt keine Feststellung zum Verbleib des
Rades zu", sagte Rechtsanwältin Anne Wehnert. Sie beantragte die
Vernehmung von vier Monteuren des ICE-Betriebswerkes Hamburg sowie
zwei EDV-Mitarbeiterinnen der Bahn. Möglicherweise sei es genau in
der fraglichen Zeit zu dem Anriss gekommen, der den Bruch des Rades
verursacht hatte, in dessen Folge der Großteil des ICE bei Eschede
entgleiste und gegen eine Brücke prallte.
"Schicksal" des Unglücksrades vor Katastrophe unklar
Zur Vorgeschichte des Unglücks-Rades gab es bisher
unterschiedliche Angaben. Nach den Unterlagen der Bahn war der
betreffende Radreifen am 12. Jänner im Betriebswerk Hamburg aus- und
erst knapp zehn Wochen später wieder eingebaut worden. Zwei
Mitarbeiter des ICE-Betriebswerkes Hamburg hatten im Prozess als
Zeugen jedoch ausgesagt, das Rad sei noch am 12. Jänner wieder in dem
Mittelwagen montiert worden. Dass dieses in den Unterlagen nicht
vermerkt sei, wurde von ihnen auf einen EDV-Fehler zurückgeführt.
Für den Fall, dass der Verbleib des Unglücksrades nicht
zweifelsfrei geklärt werden kann, forderte Wehnert für ihren
Mandanten einen Freispruch. Sie vertritt den 55-jährigen Mitarbeiter
einer Thyssen-Krupp-Tochterfirma, die das Rad hergestellt hat. Seine
67 und 56 Jahre alten Mitangeklagten sind Ingenieure der Bahn, die
die Zulassung gummigefederter Radreifen für den ICE-Einsatz zu
verantworten haben.
Die Staatsanwaltschaft wirft den drei Ingenieuren fahrlässige
Tötung und fahrlässige Körperverletzung vor, weil sie bei der
Zulassung die Gefahr eines Bruches nicht berücksichtigt hätten. Der
Radreifen war gewählt 1992 worden, nach dem es zuvor im ICE bei hohen
Geschwindigkeiten zu Brummgeräuschen gekommen war. (APA/Reuters)