In den zahlreichen Nachrufen, die auf Max Dvorák verfasst wurden, findet sich neben der respektvollen Würdigung seiner Schriften immer auch der Hinweis auf seine enorme Popularität. Tatsächlich erfreute sich Dvorák, von 1909 bis 1921 Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Wien, nicht nur im Kreis seiner Studenten großer Beliebtheit. "Ich erinnere mich noch", so Ernst Gombrich, "was für einen Eindruck Dvoráks Tod auf das Milieu gemacht hat, in dem ich damals gelebt habe. Als 1921 eine Verwandte meines Vaters mit der Nachricht kam: Max Dvorák ist gestorben, und ich als Zwölfjähriger fragte: ,Wer war denn das?', spürte ich bei den anderen dieses Gefühl eines großen Verlustes, das nicht nur Studenten, sondern auch Kunstinteressierte empfanden."Doch Dvorák, der heute als einer der führenden Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte gilt, hat in Österreich nicht immer so hohes Ansehen genossen. Als gebürtiger Tscheche sah er sich in Wien auch mit Ablehnung und Missgunst konfrontiert. Seine Berufung zum ao. Professor etwa war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Deutschnationale Kräfte im Ministerium versuchten, ihn als Nachfolger Alois Riegls zu verhindern, und bei seiner Antrittsrede befürchtete man Provokationen radikaler Burschenschafter. Geboren wurde Max Dvorák am 24. Juni 1874 in Raudnitz an der Elbe (Roudnice nad Labem). Er studierte Geschichte erst in Prag bei Jaroslav Goll und ab 1895 in Wien am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Unter dem Eindruck Franz Wickhoffs und Alois Riegls wandte er sich jedoch bald der Kunstgeschichte zu. 1897 wurde er Wickhoffs Assistent, 1902 habilitierte er sich mit einer Schrift über Die Illuminatoren des Johann von Neumarkt und 1905 schließlich wurde ihm das Extraordinariat verliehen. Im selben Jahr übernahm er auch die kunsthistorische Leitung der "Zentralkommission für die Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale". In dieser Funktion führte Dvorák nicht nur das seit 1856 bestehende Kunstgeschichtliche Jahrbuch der Zentralkommission fort, sondern begründete auch die Österreichische Kunsttopographie, jene groß angelegte Publikationsreihe zur Erfassung des gesamten österreichischen Kunstbestandes, die übrigens im Augenblick - wegen Sparmaßnahmen - eingestellt zu werden droht. Überblickt man das wissenschaftliche Gesamtwerk des Forschers, so fällt auf, dass sich der "späte" Dvorák vom "frühen" grundlegend unterscheidet. Während er sich in seinem Buch Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck (1904) noch ganz den methodischen Vorgaben seiner Lehrer Wickhoff und Riegl verpflichtet sah und die Kunst entwicklungsgeschichtlich interpretierte, hat nach dem 1. Weltkrieg Dvoráks Auffassung von Kunstgeschichte eine tiefgreifende Wandlung erfahren. Bedingt durch die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst, namentlich mit dem Werk Kokoschkas, und wohl auch mit dem Blick auf den Geschichtsphilosophen Wilhelm Dilthey war er nun bestrebt, das Kunstwerk aus der geistesgeschichtlichen Situation seiner Zeit zu erklären. "Die Kunst besteht nicht nur in der Lösung und Entwicklung formaler Aufgaben und Probleme; sie ist auch immer und in erster Linie Ausdruck der die Menschen beherrschenden Ideen, ihre Geschichte nicht minder als die Religion, Philosophie oder Dichtung ein Teil der allgemeinen Geistesgeschichte", formulierte er in einem Vortrag 1920. Jenes Werk, in dem sich sein wissenschaftliches Credo geradezu paradigmatisch äußert, ist die posthum publizierte Aufsatzsammlung Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Dieser Band, dessen Titel übrigens nicht auf Dvorák selbst, sondern auf dessen Schüler Felix Horb zurückgeht, enthält Texte, in denen sich der Autor besonders mit Umbruchperioden beschäftigt hat. Das Rückgrat und Kernstück des Buches bildet der große Aufsatz über Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei, der 1918 bezeichnenderweise in der Historischen Zeitschrift erschienen ist. Es ging Dvorák zunächst darum, einen adäquaten Beurteilungsmaßstab für die mittelalterliche Kunst zu finden. Demnach sei es die neue christliche Weltanschauung, die zu einer radikalen Neuorientierung der mittelalterlichen Kunst führe, welche weit mehr sei als bloß eine notwendige Durchgangsphase vom Altertum zur Neuzeit: nämlich eine Epoche sui generis. Den Motor der Entwicklung sah der Autor in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Bezeichnend für diesen Aufsatz ist, dass in ihm die Kunstwerke weitgehend zurücktreten. Sie sind lediglich Belege einer bestimmten geistigen Haltung. Ganz ähnlich argumentierte Dvorák in seinem "Schongauer"-Aufsatz, wo er abermals die bildende Kunst mit ihrem kulturellen Umfeld in Verbindung setzte. Die Entstehung des Holzschnittes wird dabei aus der geistigen Haltung der Zeit heraus erklärt: "(...) so wächst aus der neuen Geistesrichtung in Deutschland ein neues technisches Verfahren empor (...)". Natürlich war sich Dvorák bewusst, dass schon andere Gelehrte vor ihm auf die Verbindung von kultur-und kunsthistorischen Phänomenen hingewiesen hatten, man denke nur an Schnaase und Burckhardt. Er selbst hat den Unterschied seiner Methode zu der seiner Vorgänger dahingehend charakterisiert, dass bei diesen die einzelnen Bereiche ohne wirkliche Beziehung nebeneinander herlaufen würden, während er auch das Ineinandergreifen, den "Transmissionsriemen", sichtbar werden lässt. Im Vortrag Über Greco und den Manierismus befasste sich Dvorák mit einer Epoche, die zeitlich zwischen Renaissance und Barock liegend in ihrer Eigenständigkeit lange nicht erkannt worden ist. Von den weltanschaulichen Krisen der Zeit wie Reformation und Gegenreformation ausgehend konstatierte er eine Abkehr vom Weltbild der Renaissance. Die gesteigerte Subjektivierung führe zu einem verstärkten Freisetzen der künstlerischen Fantasie und auch der künstlerischen Möglichkeiten. Ähnlich wie es Dvorák für die Gotik gelungen war, die verschiedenen künstlerischen Äußerungen unter einen gemeinsamen geistesgeschichtlichen Nenner zu bringen, so fand er nun in der neuen Spiritualität den gemeinsamen Nenner für sämtliche im Grunde so heterogenen künstlerischen Phänomene des 16. Jahrhunderts. Damit hat der Manierismus eine Ausweitung erfahren, die - gewiss nicht ohne die Gefahr der Überdehnung - bis heute verbindlich geblieben ist. Der Motor der Veränderung liegt, so Dvorák, außerhalb der künstlerischen Entwicklung: Es ist der sich ändernde Geist der Zeit. Gerade diese Überzeugung war es jedoch, die Kritiker auf den Plan rief. Man hat Dvorák - übrigens nicht zu Unrecht - vorgeworfen, dass bei ihm die Kunstwerke zu kurz kämen, wenn er sie im Schlepptau weltanschaulicher Gegebenheiten sähe. Der Archäologe Guido Kaschnitz von Weinberg etwa fragte, "ob diese Entwicklung (...) den Rahmen der Kunstgeschichte nicht gesprengt hat, indem sie sie als Geistesgeschichte proklamierte" und fürchtete, dass die Dvoráksche Methode "auch rein erkenntnistheoretisch ein Ende, vor allem ein Ende der Kunstgeschichte als selbständiger Zweig der historischen Wissenschaft" bedeute. Wie immer man es auch sehen mag, es besteht kaum ein Zweifel, dass Dvorák der Kunstgeschichte ein ebenso weites wie kontroversielles Feld eröffnet hat. Mit seinem Anspruch, Kunstgeschichte und Geistesgeschichte miteinander zu verknüpfen, hat Dvorák das Fach vor eine der komplexesten Aufgaben gestellt, die endgültig zu lösen kaum möglich sein dürfte. Dennoch sind diese Überlegungen immer noch aktuell und stehen häufig im Zentrum auch der gegenwärtigen Forschung. Die Fragen, die Max Dvorák aufgeworfen hat, haben ihre Brisanz bis heute nicht eingebüßt. [] (DER STANDARD, Printausgabe, 15./16. Juni 2002) Max Dvorák, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. München: Piper 1924. Von Max Dvorák sind derzeit nur zwei Bücher im Buchhandel erhältlich: Max Dvorák, Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. EURO 28,90/368 Seiten. Facultas, Wien 1998. Max Dvorák, Geschichte der italienischen Kunst im Zeitalter der Renaissance. EURO 30,90/120 Seiten. Facultas, Wien 2002.