Brüssel/Kopenhagen - Die Konjunktur in Europa kommt
nicht in Schwung. Die EU-Kommission in Brüssel schraubte am Freitag
ihre Erwartungen an die zweite Jahreshälfte 2002 erneut nach unten.
Die schlechte Wirtschaftslage beschäftigte auch die EU-Finanzminister
bei ihrem Treffen in Kopenhagen und könnte dort eine Debatte über den
Sinn des strengen Stabilitätspakts lostreten. Notenbanker warnten
aber davor, wegen der schleppenden Konjunktur die ehrgeizigen Ziele
für die Sanierung der Staatshaushalte in Frage zu stellen. Jedem
Versuch, den Stabilitätspakt aufzuweichen, sollte widerstanden
werden, forderte Bundesbank-Vizepräsident Jürgen Stark in Frankfurt.
Für die zwölf Länder der Eurozone rechnet die EU-Kommission im
dritten und im vierten Quartal dieses Jahres nur noch von einem
Wirtschaftswachstum von 0,3 bis 0,6 Prozent gegenüber dem jeweiligen
Vorquartal. Bislang lautete die Schätzung der Behörde für das dritte
Quartal plus 0,6 bis 0,9 Prozent und "deutliche
Wachstumsbeschleunigung" für das Schlussquartal. Für das zweite
Quartal meldete das EU-Statistikamt Eurostat eine Zunahme des
Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone um 0,3 Prozent.
Belgischer Finanzminister: Wirtschaft wächst nur um ein Prozent
Der belgische Finanzminister Didier Reynders räumte öffentlich
ein, dass das europäische Wirtschaftswachstum in diesem Jahr
schwächer ausfallen werde als erwartet. Die Prognose werde wohl eher
bei einem Prozent als bei den bisher erwarteten 1,4 Prozent liegen,
sagte er vor dem Treffen mit seinen EU-Kollegen und den
Notenbankgouverneuren im belgischen Rundfunk. Es sei klar, dass sich
der für das zweite Halbjahr erwartete deutliche Aufschwung verzögere,
sagte Reynders.
Bei dem informellen Ministertreffen steht eine Debatte über eine
Änderung des Stabilitätspakts offiziell nicht auf der Tagesordnung.
Während der Beratungen der Eurogruppe, in der am späten
Freitagnachmittag die Minister der zwölf Euro-Staaten mit
EZB-Präsident Wim Duisenberg im kleinen Kreis zusammenkommen, dürfte
der Pakt aber angesprochen werden, hieß es von Brüsseler Diplomaten.
So schlugen vor dem Treffen anerkannte Ökonomen wie der Chefvolkswirt
der Deutschen Bank, Norbert Walter, vor, das Konsolidierungsziel des
Stabilitätspakts, das vielen Finanzministern eisernes Sparen
abverlangt, angesichts der schwachen Konjunktur zu verschieben. Der
Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, Jürgen Stark, forderte
dagegen, statt eine Debatte über den Stabilitätspakt zu führen, solle
lieber darauf geachtet werden, dass die Zahlen zur Lage der
nationalen Haushalte nicht durch "kreative Buchführung" verfälscht
würden.
Deutschland: Rezession noch kein Fremdwort
Deutschland gehört zu den Euro-Ländern, denen in diesem Jahr ein
Überschreiten des Maastricht-Kriteriums zugetraut wird.
Medienberichten der vergangenen Tage zufolge könnte die
Neuverschuldung in Berlin in diesem Jahr bis zu 3,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts erreichen. Erlaubt sind nur drei Prozent.
In ihrem jährlich vorgelegten Beschäftigungsbericht warnte die
EU-Kommission zudem, dass eine längere Wachstumsschwäche die
Arbeitsmarktziele gefährde, die die Staats- und Regierungschefs im
Frühjahr 2000 in Lissabon vorgegeben hatten. Die Lage an den
europäischen Arbeitsmärkten habe sich zwar strukturell verbessert,
ein längeres Konjunkturtief würde diese Erfolge aber wieder zunichte
machen. (APA/AFP)