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Foto: Archiv
Jeder Jazzmusiker, so seine Meinung, war an sich auch schon ein Komponist. Über ein paar von einem Begleiter eingebrachte Akkorde improvisieren - und schon war man in einem Bereich der Ideenfindung. Schön und wahr. Irgendwie. Aber gerade Charles Mingus, dieser singuläre Unruheherd des Jazzgenres, war ein Beweist dafür, dass es einen Unterschied gab zwischen Improvisator und Komponist. Denn zweifellos war er als Bassist eine der virtuosen Größen dieses Instrumentes. Tief im Blues verankert, hat er über den Bebop auch den Weg zum freien, ungebundenen Spiel gefunden und bei seinen größeren Formationen regelrecht orgiastische Zustände kollektiver Improvisationen inszeniert. Und doch war eben er einer der großen Komponisten, was nicht nur hieß, geniale Themen zu ersinnen. Auch abseits der reinen Songkomposition schrieb er für größere Besetzungen bis hin zu den Klassikorientierten des Third Stream (ein Stil, der versuchte, den Jazz mit symphonischen Gesten zu kombinieren), dachte sich also architektonisch ausgeklügelte Klanggebäude aus, wofür man schon Zeit zum Grübeln, Korrigieren und Nachbearbeiten haben musste und also doch etwas anderes tat, als zu improvisieren, also in Echtzeit zu gestalten. Heuer wäre der Mann 80 Jahre alt geworden (1979 starb er in Mexiko), und er ist bekannt für seine Musik, wie für die nicht gerade unkomplexe Struktur seines Seelenlebens. Aggression, Selbstanklage und Chaos waren seine fast ständigen Begleiter. Bei Konzerten brüllte er seine Musiker an und ließ mitunter auch mittendrin abbrechen, um Stücke neu zu starten. Kontrolle war nicht immer zugegen: Einmal streckte er seinen Posaunisten Jimmy Knepper mit einem Kinnhaken zu Boden, was ihm eine Verurteilung eintrug. Auch Mingus fand das kaum lustig. Nicht nur einmal bat er um die Aufnahme in eine psychiatrische Anstalt, wo er dann tatsächlich auch ein Weilchen blieb. Sein Therapeut Edmund Pollock schrieb für ihn mitunter Linernotes auf LPs, etwa solche Sätze: "Die in der Kindheit und dann im Mannesalter als Mensch und Farbiger erlittenen Leiden sind sicherlich ausreichend, um ihn mit Bitterkeit, Hass und Verkrampfung zu erfüllen. Er ist sich seiner Gefühle schmerzlich bewusst und will verzweifelt gesund werden." Auch Mingus selbst war freigiebig mit Äußerungen. Er schrieb nicht nur offene Briefe an Duke Ellington, die Hassliebe seines Kunstlebens, und an Miles Davis. Empfehlenswert ist auch die Lektüre seines autobiografischen Lageberichts "Beneath the Underdog", was so viel wie "weniger wert als ein Unterdrückter" bedeuten könnte. So manche seelenexhibitionistische Offenbarung ist da nachzulesen. Zum Studium seiner Musik sind natürlich Klassiker wie "Mingus ah um" (Sony) zu empfehlen. Nun ist aber auch eine Zusammenstellung (drei CDs) herausgekommen, Birthday Celebration (ZYX), die eine geballte Ladung der Jazzgeschichte bietet und den Zeitraum 1951 bis 1964 umfasst. Meister wie Lee Konitz, Max Roach, Bud Powell, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Miles Davis, Paul Bley und Erik Dolphy sind dabei - schon das macht diesen Rückblick interessant. Selbstredend auch Mingus' Musik: Eine Mixtur aus Aggression und Zartheit, markanten Themen, wilden Improvisationen und Engagement. So jemand fehlt heute. Fest möchte man meinen, dass der gegenwärtige Mangel an Innovation auch damit zu erklären ist, dass wesentliche Artisten wie Charlie Parker, Bill Evans, John Coltrane und Mingus zu früh abgetreten sind. (derStandard/rondo/6/9/02/Ljubisa Tosic)