Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen, konnte Albert Camus in seinem Werk zum einschlägigen Mythos noch unbeschwert schreiben. Seit damals hat sich der Blickwinkel etwas verengt, heute müssen wir uns besagte Figur als einen frustrierten Populisten vorstellen. Dazu eine Portion freiheitliches Bildungswerk, aus gegebenem Anlass und als Hilfe zur Einschätzung der Ergebnisse des gestrigen FPÖ-Vorstandes. Den Anlass hat er dieser Tage geliefert, als er von sich sagte: "Ich bin sicherlich ein Sisyphus der FPÖ, der bereit ist, den Stein wieder nach oben zu bringen." Zu dieser Selbst- einschätzung als Sisyphus findet sich in einem garantiert unverfänglichen Werk, nämlich im "Neuen Pauly", Enzyklopädie der Antike, folgender Eintrag: Gründer und König von Korinth, legendärer und sprichwörtlicher Betrüger, der zur Strafe in der Unterwelt einen Felsblock den Berg hochwälzen muss, der jeweils unmittelbar vor Erreichen des Gipfels ins Tal zurückrollt. Dieses Notat wäre überflüssig, erfolgte es ausschließlich zu dem Zweck, einem allgemein bekannten und nun durch Selbstdefinition vertieften Charakterbild neue Facetten hinzuzufügen. Schon eher ist es in Zeiten, in denen der Sprach- vor dem Computerunterricht zurückweichen muss, gedacht als Hinweis an die zuständige Behörde, dass einige Brosamen humanistischer Bildung gelegentlich mehr politische Lebenshilfe für den Gegenwartsgebrauch liefern können als jahrelange Verstrickung der Schüler ins Internet. Damit wollen wir uns aber auch schon von unserem Sisyphus ab- und jenen Branchenkollegen zuwenden, die ebenfalls dabei sind, einen Felsblock den Berg hinaufzuwälzen, in der Hoffnung, aber noch weit entfernt von Gewissheit, er würde nicht unmittelbar vor Erreichen des Gipfels ins Tal zurück- und auch gleich über sie hinwegrollen. Wie dies gelingen könnte, darüber machen sich zurzeit in der SPÖ viele Strategen mehr oder weniger tief schürfende Gedanken, umso mehr, je näher der Tag des letzten Gipfelsturmes heranrückt. Diese Gedanken entfalten sich gewöhnlich in einer Mehr-Optionen-Theorie, die in der Binsenweisheit gipfelt: Mehr Koalitionsoptionen sind besser als eine. Da die Wirrköpfe, die eine Koalition mit einer "völlig veränderten" FPÖ noch immer für denkbar halten, derzeit vernachlässigbar sind, handelt es sich, realistisch betrachtet, nur um eine Zwei-Optionen-Theorie, deren Optionen laut Bürgermeister Michael Häupl in den Grünen und in einer "völlig veränderten" ÖVP bestehen sollen. Dieser Theorie ist freilich ein nur dem oberflächlichen Blick verborgen bleibender Schrumpfmechanismus eingebaut, weil alles davon abhängt, ob in einem raschen Kehraus nach dem Wahltag eine "völlige" Veränderung der ÖVP möglich sei, und selbst wenn, ob dies als Grundlage für eine neue rot-schwarze Koalition reiche. Diese Regierungsform hatte, abgenützt, wie sie war, kaum noch überzeugte Verteidiger, als sie vor drei Jahren von Wolfgang Schüssel in die Luft gesprengt wurde, nicht einmal unter denen, die sein Wendeexperiment mit Jörg Haider für ein nationales Unglück halten. Auch jetzt sind keine Fans zu sehen. Wenn der SPÖ, nach fast vier Jahren in Opposition, nicht mehr einfällt, als die Koalition mit einer blau kontaminierten Volkspartei unter einem "völlig veränderten" Obmann Pröll wieder zu beleben, weil bequem, kann sie ihr Wahlziel von 40 Prozent gleich vergessen. So viel Mut- und Fantasielosigkeit wäre nicht wählbar. So wünschenswert es wäre, mehrere Optionen zu haben, so wenig Sinn macht es, wenn sie fehlen, sich und den Wählern etwas vorzugaukeln. Die merken das. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.9.2002)