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Auch der Kindsmord ist nicht mehr das, was er in der schönen Literatur einmal war. Medea z.B. brachte noch mehr beredte Leidenschaft für das Unerhörte auf als zum Beispiel Direktorengattin Gerti aus Jelineks Lust. Immer noch ist dieses Verbrechen Konsequenz äußerster Verzweiflung. Aber als literarischer Stoff ist es jetzt weniger Anlass, mit dem Schrei der gequälten Frau mitzufühlen, als Anlass, nach den Anführungszeichen ihrer Rolle zu suchen. Die entzauberte Frau kann für die grausige Tat nicht mehr das rechte Wort finden, auch in diesem Roman nicht: "'Kollateralschäden', murmelte O, als sie B und M in dieser Reihenfolge aus dem Küchenfenster von Xs Wohnung im vierten Stock wirft." Die zugehörige Scheidungstragödie ist vor einiger Zeit durch die österreichische Presse gegangen. In seinem Erstlingswerk Verhalten entwickelt Thomas Raab weniger diesen Hintergrund als das intellektuell Typische und Allgemeine. In kurzen Szenen einer Ehescheidung saugt die Darstellung Beobachtungen, Gesten und Gedanken der Beteiligten wie in eine Sprachmaschine ein, portioniert sie, macht das Schema an ihnen so kenntlich wie an Legobausteinen und spuckt sie wieder aus: als klischiertes Unglück. "Ich lebe, sagt O, so an mir vorbei." "Das hab ich ja immer gesagt, sagt A, wir glauben an etwas vorbeizuleben und sind doch mittendrin." Dabei haben die Beteiligten Urs Widmer und Sigmund Freud und ihr Autor zusätzlich noch (mindestens) Robert Musil, Robert Walser und Oswald Wiener gelesen. Sie alle bemerken und bedenken Einzelheiten, das schwarze Kleid oder das Licht in den Bäumen, den Wein im Glas und das kochende Teewasser, als würde all das ein Versprechen von Individualismus und Glück beinhalten. Gleichzeitig reflektieren sie als psychologisch und politisch geschulte Menschen ihr Glück und Unglück in abstrakten Kategorien. Aber es gelingt ihnen nicht, das Besondere ihres Lebens im Allgemeinen aufzuheben. "Eigenes" und "Fremdes", das in Medea so unheilvoll aufeinanderprallt, verwischt sich merkwürdig in ihren Gedanken: Noch in den einfachsten Tatsachen einer persönlichen Katastrophe scheint die Figur mit dem Erzähler neben sich selbst zu stehen: "O hatte die Plastiktüten auf der Treppe abgestellt, sich leicht zusammengekrümmt und zu weinen begonnen. Geweint hatte sie dann meistens etwa eine halbe Minute lang. Dann hatte sie ihren Körper gestreckt, die Plastiktüten wieder aufgenommen und war weiter die Treppe hochgestiegen. Der letzte Luxus, der im Spätkapitalismus geblieben war, war die Verschwendung von Talent." Dieser letzte Satz ist auch so etwas wie eine Plastiktasche: Er fasst seinen Inhalt ein bißchen billig, aber unentrinnbar und handlich, und ist zugleich irgendwie nicht ganz stilgemäß. Wie jedes Bonmot ist er zu glatt und klingt nach Zitat. Sehr effektiv zerstört er ein Mitgefühl, das sich vielleicht hätte einstellen können: Sieht man allerdings in Sätzen wie diesem den Stilbruch als "Fehler", dann wimmelt es in Raabs Buch von "Fehlern". Sie sind die Konsequenz des Denkens der Figuren, auf die Erzählperspektive übertragen. Raab bespricht nicht nur eine Zerstörung der Gefühle im Klischee, er führt sie vor. "Machen wir uns nichts vor (...) es wird eine gewöhnliche Geschichte der Gewalt gewesen sein." Das ist das Resümee von Raabs Verhalten. Die "Gewöhnlichkeit" dieser Geschichte liegt in einer Mechanik des Denkens, die zum Kindermord führt und viel unbestimmter bleibt als eben zum Beispiel bei Jelinek: Es sind die Abstraktionen allgemein, die in diesem Denken nur Sinnversprechen erzeugen, aber keinen "höheren" Sinn. Die Gewalt entsteht aus einer Implosion, nicht einer Explosion von Bedeutung. Sie hinterlässt resignative Traurigkeit eher als politische Agressivität: "Wir erwarten das Drama, denkt A laut, wir sitzen da oder sind glücklich, verliebt, und erwarten das Drama, weil wir es erwarten. Das ist der Sinn und der Ursprung der Analyse, sagt A zu sich, dem Metakünstler, sie will etwas herstellen, und das erzeugt Erwartung und damit das Drama. Wir sind schon analysiert, bevor wir das erste Mal in die Hose scheißen, denkt A laut, ich hasse das, das ist keine Kunst." (Von Christoph Leitgeb/DER STANDARD, Album, Printausgabe, 31.08.2002)