Der Grazer Droschl-Verlag publiziert das begeisternde Werk einer zu Unrecht Vergessenen: Eben erschien der zweite Roman von Mela Hartwig, einer frühen Vorläuferin feministischer Literatur in Österreich. Auch ihre Gemälde wurden wiederentdeckt.
Foto: Standard
Wien - Im vergangenen Herbst stellte sich, mit 70-jähriger Verspätung, die Stenotypistin Aloisia Schmidt dem erbarmungslosen Licht der Öffentlichkeit. In einer Offenheit, deren hoher Reflexionsgrad ein Studium der Schriften Sigmund Freuds vermuten lässt, berichtete sie aus der Innensicht eines unbemerkten, eines unscheinbaren Lebens, das des Selbstbewusstseins ebenso ermangelte wie jeglicher Form äußeren Erfolgs. Bin ich ein überflüssiger Mensch? "Wozu lebt ein Mensch wie ich eigentlich, wozu, fragte ich mich hoffnungslos, ein Mensch, der zu nichts taugt, weil er nicht an sich glaubt, und der nicht an sich glaubt, weil er zu nichts taugt, ein vollkommen überflüssiger Mensch." Frau Schmidts ebenso präzise wie schonungslose Selbstanalyse zog jedoch noch einen zweiten Namen aus der Vergessenheit hervor: den ihrer Schöpferin, der österreichischen Autorin Mela Hartwig. 1931 hatte Hartwig die erdachte Biografie eines Durchschnittsschicksals - zur lebenden Massenware reduziert im Zahnrad der Industrialisierung - unter dem fragenden Titel Bin ich ein überflüssiger Mensch? ihrem Wiener Verleger, Franz Zsolnay, angeboten. Schon in einer ersten Absage hatte der Verlag seiner Autorin kund getan, weshalb man nicht daran denke, ihren zweiten Roman zu veröffentlichen: Es handle sich um ein "absolut publikumsunwirksames und abseitiges Werk, das in der heutigen Zeit einem heutigen Publikum vorzulegen einen sicheren Misserfolg bedeuten würde." Zwei Jahre später, im März 1933, wurde die vorläufige Absage unter dem Eindruck der politischen Zeitläufte eilfertig zu einer endgültigen, da "das Weltbild des deutschen Lesepublikums und besonders der deutschen Frau heute ein anderes ist als die Lebensanschauung, die aus Ihrem Werke spricht". Wenig später verbot die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer auch die früheren Publikationen der Autorin, den Novellenband Ekstasen und ihren ersten Roman Das Weib ist ein Nichts als "Wunsch- und Wahn-Erotika eines durch die Psychoanalyse verjauchten Gehirns". Zeit ihres Lebens gelang es Mela Hartwig nicht mehr, ihr Werk aus der erzwungenen Stille zu befreien. 1967 starb sie vergessen in London, wohin die jüdische Feministin 1938 gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Rechtsanwalt Robert Spira, geflohen war. Körper und Text Es ist der Literaturwissenschafterin Bettina Fraisl zu danken, dass sich das dichte Schweigen um die Autorin seit einem Jahr lichtet. Fraisl, deren Studie über Mela Hartwig, Körper und Text. Körper(de)konstruktionen von Weiblichkeit und Leiblichkeit bei Mela Hartwig, vor einem Monat im Passagen Verlag erschien, trug die Werke der Vergessenen zum Grazer Droschl-Verlag, der Bin ich ein überflüssiger Mensch?, das immer wieder abgelehnte Romanmanuskript, zur Erstveröffentlichung brachte. Kaum ein Jahr später gab Droschl nun Mela Hartwigs ersten Roman heraus, Das Weib ist ein Nichts. Der Roman, der nach Hartwigs Willen ursprünglich Figurine hätte heißen sollen, liest sich in vieler Hinsicht als das cineastisch glamouröse Gegenstück zu seinem düsteren Antizwilling. Brachte die Heldin mit dem Massennamen Schmidt die Tristesse eines realen Dutzendschicksals zur Sprache, erfüllte "die süße Bibiana" als Figurine alle Klischees der Kolportageliteratur oder des neuen Weltfluchtmediums Film. Von Liebe und Trieb beseelt, durchseufzt sie das Leben in Folge an der Seite eines verwegenen Abenteurers - der sie in die russische Adelige Nastasja verwandelt -, in den Armen eines ebenso hässlichen wie genialischen Komponisten, eines europaweit agierenden Großkapitalisten und eines Gewerkschaftsagitators, bevor sie in den Wirren sozialer Aufstände eines zufälligen Todes stirbt. Kein Wunder, dass dem Roman großer Erfolg beschieden war - in Verkennung seiner durchaus feministischen Unterströmung, die die dezidiert an Weininger geschulten Männerklischees einer weiblichen Existenz ironisch infrage stellt. Er verdankt ihn nicht zuletzt dem hoch rhythmisierten Prosastil, mit dem Hartwig selbst noch einem Bankhaus den Puls der Industrialisierung einschreibt: "Es roch nach Geld. Aber nicht nach jenem lebendigen Geld, das durch die Straßen rollt, das einen Laib Brot, ein Auto, eine Villa bezahlt, den Bedarf und die Laune, das dem einen an den Händen klebt, dem andern durch die Finger rinnt, das immer nur durch ein Portemonnaie, durch eine Brieftasche, durch eine Kassa hindurch auf die Straße, auf den Markt zurückrollt; es roch nach jenem Geld, das, zu Aktien gebändigt, Hochöfen heizt, Maschinen mit Strom versorgt, Schienennetze und Kabelstränge über Kontinente spannt, den Markt mit Bedürfnissen überschwemmt, sich zu gigantischen Zahlen emportürmt, zur Idee vereist." Öffnet sich hinter Bin ich ein überflüssiger Mensch? die triste Realität, die die Zwanziger- jahre verdrängen wollten, liest sich Das Weib ist ein Nichts als das ekstatisch überhöhte Fluchtbild einer vom eigenen Aufbruch überforderten Gesellschaft. Mela Hartwig selbst kehrte nie mehr aus London zurück. Im Alter von 60 Jahren begann sie, ihre - nach einer Schauspielerinnenkarriere vor ihrer Heirat, nach dem Schreiben - dritte künstlerische Existenz zu begründen: Sie begann malerisch fortzusetzen, was sie bereits in den Zwanziger- jahren, als sie mit ihrem Mann in Graz lebte, begonnen hatte. Unter dem Namen Mela Spira feierte sie einen letzten, internationalen Erfolg. Auch ihre Bilder werden heute wiederentdeckt. (Cornelia Niedermeier, D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 28.8. 2002)