Mit "Ratcatcher" ist der Schottin Lynne Ramsay ein eindrucksvolles Spielfilmdebüt gelungen, das eine Kindheit in einem trostlosen Arbeiterviertel beschreibt: ohne Sozialromantik.


Wien - Das Haus steht an einem eine lange Busfahrt entfernten Ort. Es ist unbewohnt, die Badewanne ist noch halb verpackt. Der Bub legt sich trotzdem hinein, er streckt sich darin aus wie in einem heißen Bad. Dann sieht er aus dem Fenster, das wie ein Rahmen erscheint. Dazwischen breitet sich bis zum Horizont ein weites Kornfeld aus.

Das Haus ist ein Wunschort, ein äußerster Fluchtpunkt aus der Arbeitersiedlung in Glasgow, in der James (William Eadie) lebt. Mitte der 70er-Jahre türmt sich dort vor den Backsteinbauten der Abfall, da die Müllabfuhr streikt. Hinter den Häusern fließt ein schmutziger Kanal, an dem die Kinder spielen. Ratcatcher, der viel beachtete Debütfilm der Schottin Lynne Ramsay, beginnt, als darin ein anderer Junge ertrinkt. James hat sich mit ihm gerauft und ihm dabei den letzten Stoß versetzt.

Das Ereignis hat jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen, es zeigt bloß die letzte Konsequenz eines Lebens am Rande der Zumutbarkeit an. Dabei bedient Ramsay in ihrem Film keine Form von rohem Naturalismus, und genauso wenig hat sie mit dem britischen Sozialrealismus eines Ken Loach oder auch Mike Leigh zu schaffen. Die Perspektive, mit der Ratcatcher auf sein Milieu blickt, ist die eines Kindes, sie pendelt zwischen realistischen Alltagserfahrungen und poetischen Momenten, die gleichsam auf einem anderen Bewusstsein gründen und alles um sie herum auszublenden vermögen.

Es kann eine Berührung sein - des Knies der ein wenig älteren Margaret Anne (Leanne Mullen), auf der James später einmal liegt, als wäre er eingeschlafen; ein Abend, an dem man gemeinsam zu Schlagern singt; die nächtliche Umarmung der Schwester oder eben eine Busfahrt, die einen fortbringt.

Ramsay hebt mit solchen Szenen die Normalität im Dreck, das Dasein unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen kurz auf: Ihre emphatische Betrachtung von James Verrichtungen - der eher in den Außenseitern Gefährten sieht und sich auch der Fußballbegeisterung seines Vaters widersetzt - lassen jedoch selbst das Wenige viel erscheinen.

Tastende Bilder

Es gibt kein eigentliches Geschehen in Ratcatcher. Der Bub steht im Zentrum einer assoziativen Folge von kleineren Aktionen und Eindrücken, die entweder das Familienleben betreffen oder die Menschen der Siedlung - dabei meist die Kinder. Zögerlich vollzieht sich ein inneres Drama: jenes von James, der seinen Platz noch bestimmen muss. Die subjektive Sichtweise, die an Details entlangtastende Erzählweise, die an die Arbeiten von Jane Campion erinnern, forcieren jedoch keinerlei Gefühl von Bestimmtheit.

Das ist ein weiterer Vorzug dieses Films: Er ist scheinbar unsicher wie seine Figur, nie eindeutig. Haare zu entlausen schmerzt einmal, das andere Mal ist es schon eine halbe Verführung. Bei Margaret Anne sucht James öfters Zuflucht, wenn der Vater wieder einmal im Rausch tobt. Aber sie bleibt eine ambivalente Figur, weil sie sich auch jedem anderen Jugendlichen hingibt.

Foto: Filmladen
Ein leuchtendes Kornfeld als Ort der Geborgenheit und Moment von Glück

Die soziale Verrohung der Menschen, wie etwa die Erniedrigungsspiele der Kinder, sie nimmt zu, wie der Abfall anwächst. Auch hier entgeht Ramsay der Gefahr, aus diesem Bild eine allzu griffige Metapher zu machen. Sie setzt nicht gleich, sondern führt Parallelen vor, die sich wieder verlieren können.

Widersprüchlich ist schon der Titel, denn Ratten werden keine gefangen. Sie werden geschlagen, angelockt, man lebt unter ihnen. In einer der wenigen sinnbildlichen Szenen fliegt eine Maus auf einem Ballon davon und landet am Mond, wo es von anderen Mäusen wimmelt. Ein Moment der Sciencefiction, der Einbildung, ein Trugbild wie das leere Haus. In Wahrheit entkommt niemand, nur die Armee beseitigt eines Tages den Müll. (DER STANDARD, Printausgabe, 31.7.2002)