"Empörend" und "abscheulich" sind noch die harmlosen Begriffe: Unter hochrangigen Politikern fast aller Parteien in Israel ist man sich einig, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IstGH) in Den Haag, Karim Khan, mit seinen Haftbefehlanträgen gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant ein schweres Foul begangen hat.

Als Khan vor drei Jahren zum neuen Chefankläger ernannt wurde, hatte man ihn in Israel noch als beste Wahl unter allen vier Kandidaten betrachtet – ihm wurden Pragmatismus und Unvoreingenommenheit beschieden.

Heute sieht das ganz anders aus. Netanjahu griff Khan am Montag scharf an. Er bezichtigte ihn eines "neuen Antisemitismus" und stellte ihn in eine Reihe mit Richtern des NS-Unrechtsregimes. Auch Gallant bezeichnete Khans Antrag als "verabscheuungswürdig" und als einen "Versuch, Israel sein Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen".

Gegenoffensive

Selbst Netanjahus schärfste Kritiker stellen sich nun vor den konservativen Premier. Der Tenor ihrer Kritik am Tribunal in Den Haag: Dass Israel als erstes demokratisch regiertes Land ins Visier des Chefanklägers kommt, sei nicht anders als mit antiisraelischer Voreingenommenheit zu begründen.

Die Regierung holt derweil zur diplomatischen Gegenoffensive aus. Der Plan dafür liegt schon seit längerem in der Schublade. Schließlich kam der Antrag auf Haftbefehle nicht ganz unerwartet. Überraschend war nur der Zeitpunkt – und dass der Antrag des Anklägers nicht wie sonst üblich ohne öffentliche Kundmachung gestellt wurde.

Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Karim Khan, ist in Israel zum Feindbild mutiert.
AFP/LUIS ACOSTA

Israels Regierung versucht nun, alle Hebel zu aktivieren, um die Haftbefehle doch noch abzuwehren – schließlich liegt die Entscheidung, ob sie tatsächlich verhängt werden, bei einem dreiköpfigen Richtersenat, der sogenannten Vorverfahrenskammer. Bis die Kammer entschieden hat, können Wochen bis Monate vergehen. Israel hofft, bis dahin genügend öffentlichen Druck aufgebaut zu haben, um die Entscheidung beeinflussen zu können. Nun geht es darum, möglichst viele Verbündete in Europa und Übersee davon zu überzeugen, dass sie sich öffentlich von der Entscheidung des Chefanklägers distanzieren.

Rechtsstaat könne das lösen

Netanjahus Regierung setzt dabei auf ein zentrales Argument: Israel habe einen funktionierenden Rechtsstaat und sei in der Lage, mutmaßliche Kriegsverbrechen auf nationaler Ebene zu ahnden.

Man verweist darauf, dass der Internationale Strafgerichtshof bislang ausschließlich Vertreter von nicht demokratisch regierten Staaten wegen Kriegsverbrechen verfolgt hat. Es sei ungerecht, Israel in eine Reihe mit diesen Regimes zu stellen.

Benjamin Natanjahu setzt auf eine diplomatische Charmeoffensive.
REUTERS/Ronen Zvulun

Den wichtigsten Verbündeten, die USA, muss Israel erst gar nicht überzeugen: US-Präsident Joe Biden hat bereits erklärt, was er von dem Antrag auf Haftbefehle hält: "Empörend" seien diese, Washington stehe auf der Seite Israels. Auch Großbritannien, die Tschechische Republik und Österreich glaubt Israel bereits auf seiner Seite zu wissen.

Als Wackelkandidat wird Frankreich gesehen, weshalb Israels Außenminister Israel Katz bereits für Dienstag einen kurzfristigen Paris-Besuch anberaumt hat. Frankreichs Außenministerium kam dieser Charmeoffensive jedoch zuvor: Man unterstütze die Entscheidung des Anklägers, erklärte Paris in einem Kommuniqué. Man habe Israel schon seit Monaten zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts gemahnt und auf die hohen Opferzahlen in Gaza hingewiesen, heißt es.

Auswirkung auf IGH-Entscheid?

Für Israel steht viel auf dem Spiel: Sollten die Haftbefehle tatsächlich ausgestellt werden, könnten Netanjahu und Gallant nicht mehr in jene 124 Staaten reisen, die Vertragsparteien des Römischen Statuts sind – darunter auch Österreich. Auch weitere Minister und hochrangige Militärvertreter wären wohl gut beraten, Auslandsreisen zu meiden – schließlich könnte der Gerichtshof jederzeit weitere Haftbefehle verhängen, sofern Khan diese beantragt. Sie wären dann sofort rechtsgültig.

Auch die Richter im Internationalen Gerichtshof (IGH), der ebenfalls im niederländischen Den Haag angesiedelt ist, könnten den Antrag des Chefanklägers in ihre Erwägungen einfließen lassen. Sie müssen in den kommenden Wochen bereits zum dritten Mal auf Antrag Südafrikas entscheiden, ob sie Israel im Gazakrieg sogenannte vorläufige Maßnahmen auferlegen – bis hin zu einer verordneten Waffenruhe. Parallel dazu läuft im IGH die inhaltliche Prüfung des Vorwurfs, ob Israel in Gaza einen Genozid begeht. In der Kundmachung von IStGH-Chefankläger Khan findet sich der Genozidvorwurf wohlgemerkt nicht. Bis diese Frage vorm IGH entschieden ist, könnten noch Jahre vergehen.

Das Damoklesschwert der drohenden Haftbefehle könnten auch Israels sicherheitspolitische Allianzen belasten. Rüstungsverträge drohen ohne Verlängerung auszulaufen – kein Vertragsstaat des Strafgerichtshofs will sich vorwerfen lassen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu unterstützen. Zudem droht wirtschaftlicher Schaden: Investoren könnten aus Angst vor Imageverlusten vor einem Engagement im israelischen Markt zurückscheuen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 21.5.2024)