Das riesige Wandgemälde des brasilianischen Kollektivs The Huni Artists Movement erzählt die Legende von einem völkerverbindenden Alligator in der Beringstraße.
Das riesige Wandgemälde des brasilianischen Kollektivs The Huni Artists Movement auf der Fassade des Biennale-Zentralpavillons erzählt die Legende von einem völkerverbindenden Alligator in der Beringstraße.
IMAGO/Manfred Segerer

Obwohl man sie übergroß vor der Nase hat, geht sie ein bisschen unter – die schöne Geschichte hinter dem knallbunten Wandgemälde, mit dem das brasilianische Kollektiv The Huni Artists Movement den diesjährigen Zentralpavillon bei der Venedig-Biennale verzierte. Erzählt wird die südamerikanische Legende vom "kapewe pukeni", wonach in der Frühzeit des Menschen, als dieser von Asien über die Beringstraße nach Amerika einwanderte, ein riesiger Alligator als Brücke behilflich gewesen sein soll. Im Abtausch versprachen die Menschen dem Tier Nahrung. Als diese aber knapp wurde, erlegten die Menschen einen kleineren Alligator, wodurch der größere sich betrogen fühlte und das Weite suchte. Durch die erzwungene Trennung der Menschen voneinander seien so die verschiedenen Völker, Ethnizitäten und Nationen entstanden.

Gesucht ist heute nicht nur ein Alligator, es sind viele solcher Brücken, die die 60. Kunstbiennale in Venedig bauen will. Nachdem vor zwei Jahren mit "The milk of dreams" queere Geschlechtsidentitäten im Fokus standen, wird diesmal das identitätspolitische Rad weitergedreht in Richtung Globaler Süden. "Foreigners everywhere" ("Fremde überall") lautet das Motto, und im Vergleich zu vor zwei Jahren geht es dabei weniger um individuelle Partikularinteressen, sondern um kollektive Anliegen: soziale Bedingungen, Umweltschutz, Kolonialismus und Rassismus. Die Ausstellung aber, kuratiert von Adriano Pedrosa, Leiter des Museu de Arte São Paulo, kommt keineswegs schwer oder mit erhobenem Zeigefinger daher: Sie ist lebens- und farbenfroh, an vielen Stellen ironisch und oft auch ganz nüchtern analytisch an handwerklichen Fragen der Kunst interessiert. 331 Kunstschaffende aus 80 Ländern werden gezeigt.

Kunstgeschichte und Gegenwart

Die wie üblich auf den Zentralpavillon in den Giardini und die meterhohen Hallen des Arsenale verteilte Großausstellung beginnt jeweils mit einem Werk, das als Metapher für Reise und Migration steht: Hier ist es ein Beduinenzelt der türkischen Künstlerin Nil Yalter, dort ein Refugee-Astronaut im buntgemusterten Textilanzug, der in einem Gepäcknetz antiquierte Reiseutensilien trägt (Yinka Shonibare). In den Giardini geht es vor allem um historische Werke des 20. Jahrhunderts, im Arsenale um Aktuelleres.

Der britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare zeigt einen Astronauten im bunt geschnörkelten Textilanzug mit antiquierten Reiseutensilien.
Der britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare zeigt einen Astronauten im bunt geschnörkelten Textilanzug mit antiquierten Reiseutensilien.
IMAGO/Manfred Segerer

Kurator Pedrosa fokussiert stark auf den Ideenaustausch hinsichtlich der Formen der Kunst. Genauso wie Picasso und Co sich bekanntlich von afrikanischen Motiven inspirieren ließen, wirkte der westliche Kunstkanon auch auf den Süden zurück. In den 1960er-Jahren erweiterte etwa die sogenannte Casablanca-Schule um die Namensvetter Mohamed Chebaa, Mohamed Hamdi, Mohamed Kacimi und Mohamed Melehi konstruktivistische Abstraktion à la Piet Mondrian um organische Formen – so wie die Kunst des Südens generell dazu tendiert, den harten rechten Winkeln des Nordens geschwungenere, weichere Formen entgegenzuhalten. Mit 100 ausgestellten Porträts in allen Stilen, von Kubismus bis Expressionismus, wird gezeigt, wie Künstler des Globalen Südens im 20. Jahrhundert auf dort lebende Menschen blickten – ein Kontrapunkt zu den exotistischen Fantasien, die die Salonmalerei des Westens dominierte.

Einen einstündigen Dokumentarfilm über die "Mohren"-Faszination des alten Europa hat mit We were here: The untold History of Black Africans in Renaissance Europe der italoafrikanische Filmemacher Fred Kuwornu gedreht. Alessandra Ferrini erzählt mit einem ähnlichen dokumentarischen Rechercheansatz die (post)kolonialen Beziehungen zwischen Italien und Libyen. Der Fotograf Pablo Delano wiederum thematisiert in eindringlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen die Kolonisierung Puerto Ricos durch Spanien und die USA.

Die sogenannte Casablanca-Schule der 1960er-Jahre erweiterte den Konstruktivismus um organische Formen.
Die sogenannte Casablanca-Schule der 1960er-Jahre erweiterte den europäischen Konstruktivismus um organische Formen: Symbol eines Kulturtransfers.
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Die meditativ-sinnliche Ebene bedient etwa die philippinische Malerin Maria Tanaguchi mit ihrer monochromen, im Detail aber sehr feingliedrigen Malerei. Gabrielle Goliath aus Südafrika hat in ihrem Videobeitrag Interviews mit schwarzen, indigenen und queeren Menschen gedreht, dabei aber nur jene Füllwort-Stellen im Video belassen, die man sonst üblicherweise herausschneidet, also die "Ähs und Ähms". Eine Universalsprache?

Kein Skandal wie bei der Documenta

Im Gegensatz zur vergangenen Documenta in Kassel, die ebenfalls den Globalen Süden ins Rampenlicht rücken wollte, kommt die professioneller kuratierte Biennale ohne antisemitische Untertöne aus. Einzig im Arsenale wird auf einem großen Altarbild der Mexikanerin Frida Toranzo Jaeger unter anderem der Liebe für Palästina Ausdruck verliehen, während auf der Rückseite der Leinwand kryptisch von "Herzen gegen Genozid" die Rede ist. Etwas mehr Begriffsschärfe würde den aktivistischen Bewegungen guttun. Als Antikriegsstatement generell verstehen darf man eine Installation der mexikanischen Modedesignerin Bárbara Sánchez-Kane: Sie stapelt grotesk überzeichnete Uniformierte in Reih und Glied übereinander – in einer dazugehörigen Liveperformance wird satirisch bloßgestellt, dass Militarismus auch immer einen gehörigen Schuss Homoerotik beinhaltet.

Biennale
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Als derzeit beliebtes Symbol, um daran allerlei politische Umdeutungen vorzunehmen, erweist sich übrigens die antike Säule: Im Schweizer Pavillon lässt man sie zusammenkrachen, der türkische Beitrag zeigt sie ausgehöhlt, fragil und längst nicht mehr aus Stein, sondern aus Plastik gefertigt. Die Afroamerikanerin Lauren Halsey ließ im Arsenale-Freigelände pseudo-ägyptisierte Säulen, wie sie im Westen früherer Jahrhunderte beliebt waren, aufstellen und schlägt diese mit Graffiti-Inschriften und afrikanischen Physiognomien nun ihrer Community zu. Von ägyptischer Seite setzte es dafür Kritik. Ägypter seien keine Schwarzen, hieß es.

Der afroamerikanischen Künstlerin Lauren Halsey schlug wegen ihrer
Der afroamerikanischen Künstlerin Lauren Halsey schlug wegen ihrer "afrikanisierten" pseudoägyptischen Säulen Kritik aus Ägypten entgegen.
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Wenn diese Biennale aber eines zeigt, dann vielleicht, dass Aneignung nicht immer per se negativ passiert. Respekt und Augenhöhe vorausgesetzt, lohnt es, sich auf das alte Wort vom Kulturtransfer zu verständigen. Anders gesagt: Der Alligator schwimmt längst in beide Richtungen. (Stefan Weiss, 20.4.2024)