Von dem wenig schmeichelhaften Psychogramm, das die Frau von ihm erstellt hat, bekommt der Mann nicht viel mit. Dabei hat sie es ziemlich laut gebrüllt. Ausgearbeitet hat sie es in den Sekundenbruchteilen, in denen sie mit ihrem Rad eine Vollbremsung hingelegt hat, um nicht unter seinem SUV zu landen.

Ein Mann läuft knapp vor einem Fahrrad über den Radweg
Ohne zu schauen rennt dieser Mann über den Radweg und zwingt zwei Radler zum Bremsen. Passiert ist nichts.
Guido Gluschitsch

Kurz darauf tut es der Radfahrerin leid, dass sie so ausgezuckt ist. "Der Autofahrer hat sich ja selber geschreckt. Die Kreuzung hier ist auch wirklich deppert."

Wir befinden uns auf dem Ring in Wien, auf Höhe des Schwarzenbergplatzes. Hier verläuft mit einer Frequenz von mehr als einer Million Radlerinnen und Radlern pro Jahr einer von Österreichs meistbefahrenen Radwegen – führt er doch an vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei. Und er ist trotz seiner nur zwei Kilometer Länge einer der gefährlichsten. Die steigenden Radunfallzahlen im ersten Bezirk – 2021 waren es 139 – gehen vorwiegend auf das Konto des Ring-Radweges.

Fadenscheinige Sperre

Wenige Meter weiter kommt ein junger Mann fast zu Sturz, weil er einem älteren Mann ausweichen muss, der gerade seinen Hund auf dem Grünstreifen der Ringstraße entleert. Während der Hund in der Wiese die Radler nicht weiter stören würde, geht der Mann mitten auf dem Radweg, die andere Hälfte des Weges versperrt die Leine. Für einen Radler, der sich mit ambitioniertem Tempo annähert, ist die Leine vermutlich erst im letzten Moment zu sehen. Der Ausweichhaken, den der junge Mann mit seinem Fahrrad schlägt, lässt ebendies vermuten.

"Nein, ich habe nie Probleme mit den Radfahrern", sagt der alte Mann, der den Beinahezusammenstoß gar nicht mitbekommen haben dürfte. "Nicht einmal, wenn ich mit dem Hund unterwegs bin. Und er hat auch keine Probleme mit den Radlern."

Ein Lastenrad mit einem großen Verbau, auf dem Fritz-Kola steht.
Manche Lastenräder mit großen Aufbau sind so breit, dass sie alleine schon die ganze Breite des Radweges brauchen.
Guido Gluschitsch

Auf der anderen Seite des Rings, nur wenige Minuten später, kommt es beinahe zu zwei Massenkarambolagen. Das erste Mal scheppert es fast, als ein junger Mann tatsächlich bremst und anhält, weil die Ampel auf Rot gesprungen ist. Der Tross hinter ihm hat damit schlicht nicht gerechnet. Eine ältere Dame, mit einem Leihrad, die fast zu Sturz gekommen wäre, kommentiert die Situation mit einem aparten "Oh, là, là". Sie derrappelt sich aber und nimmt neben dem Bremser die Poleposition ein.

Als es grün wird, setzt sich der Tross wieder in Bewegung und fällt beinahe doch noch in sich zusammen, als der Rest der vermeintlichen Touristengruppe hinter einer schlecht einsehbaren Kurve den ganzen Radweg blockiert und auf die Abgehängten wartet. Ein ziemlich gelassen wirkender Radler sieht das Treiben und muss schmunzeln.

Radikale Ringänderung

"Im Grunde bin ich gerade sehr zufrieden mit den Radwegen in Wien", sagt er, "weil die Wege, die ich am häufigsten benutze, gerade ausgebaut wurden." Er spricht den Prater und die Argentinierstraße an. "Auf dem Ring ist das Problem, dass dieser Radweg zu viele Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen muss." Radikal, sagt er, wäre es, die Radinfrastruktur rund um den Ring auszubauen. Das würde ihm gefallen.

Weit weniger gelassen, gibt ein junger Mann zu, sei er, wenn er mit dem Rad unterwegs ist. Anscheinend geht mit ihm, der auf den ersten Blick sehr ruhig wirkt, das Temperament durch, wenn er auf dem Rad in heikle Situationen kommt. Zumindest legen das die Geschichten nahe, die er erzählt.

Viele Menschen am Radweg gehen spazieren und eine Frau versucht mit dem Rad durchzukommen.
Dieser Dame werden Menschen zum Verhängnis, die sich unvorhersagbar am Radweg bewegen.
Guido Gluschitsch

Da war etwa der Sturz über den Lenker. "Ich bin hinter einem Bus hergefahren, zu schnell und mit zu wenig Abstand. Als der stehengeblieben ist, habe ich scharf abgebremst und einen Vorwärtsköpfler auf die Busrückseite gemacht – nichts passiert, aber deppert war’s halt." Wohl auch, weil die Brezen selbstverschuldet war.

Aber er hat sich auch schon einmal mit einem Taxler ein Schreiduell geliefert, "weil er mich mit viel zu wenig Abstand überholt hat". Dass er mit der flachen Hand auf sein Auto geschlagen hat, nahm nicht gerade den Druck aus der Situation. "Rückblickend ist mir das sehr unangenehm, weil ich an sich auf zivilisierte Umgangsformen Wert lege – aber gerade in Situationen, in denen ich kurz echte Angst bekomme, verliere ich die Beherrschung."

Schrei nach Aufmerksamkeit

Nicht von Angst, wohl aber von Respekt erzählt eine Frau, den sie habe, wenn sie sich mit dem Rad einer Kreuzung nähere, die nicht gut einzusehen sei. "Körperlich wirke ich da vielleicht entspannt, aber innerlich koche ich. Und da kann es auch schon einmal passieren, dass ich ausfallend werde, wenn mich ein Autofahrer übersieht." Und sie stellt Autofahrer mitunter auch zur Rede. Nicht immer wählt sie dafür ihre charmanteste Stimme, gibt sie zu. Mit dem Erfolg: "Meist werde ich dann zurück angeschrien."

"Mich hat einer übersehen, ich bin nicht gestürzt, aber seitlich mit dem Auto kollidiert", erzählt ein Mann von seinen Raderlebnissen in Wien. "Ich konnte noch bremsen und absteigen. Er ist rasch weitergefahren, ich bin ihm hinterher, er ist bei nächster Möglichkeit bei der Tankstelle rechts ran und hat sich entschuldigt." In der uneinsichtigen Kreuzung habe ihn der Autolenker schlicht nicht gesehen.

"Wenn die Fußgänger nicht wären", sagt hingegen eine Dame, "ginge alles viel schneller." Als die Radwege noch frisch und durchgängig grün markiert gewesen seien, seien die Fußgänger aufmerksam gewesen. Auf genau so einem grünmarkierten Abschnitt zwingt eine ältere Dame einen Radfahrer zur Notbremsung, weil sie, ohne zu schauen, langsam den Streifen quert. Als sie den Radler bemerkt, schreckt sie sich, obwohl dieser schon steht. Er zwinkert ihr zu und lächelt.

Ein Frage des Platzes

"Schau dir den Ring an", sagt er und deutet auf die Fahrbahn. "Drei Spuren für die Autos, und wir stehen hier auf einer kleinen Verkehrsinsel mit einem eingezeichneten Fahrstreifen, der nicht einmal breit genug ist, dass sich zwei Fahrräder nebeneinander an der Ampel anstellen können – und diesen Raum teilen wir uns noch mit den Fußgängern. Da muss es ja zu Komplikationen kommen."

Ein Essenslieferant mit einem E-Mofa auf dem Radweg.
Radfahrern sind die Essenslieferanten mit ihren E-Mofas genau so ein Dorn im Auge, wie die Fußgänger am Radweg. Weil einfach zu wenig Platz ist, damit sich alle gleichzeitig ordentlich bewegen können.
Guido Gluschitsch

Er ist ein selbstbewusster und zügiger Fahrer auf seinem Rennrad. Und er fährt auch manchmal mit dem Auto und kennt auch deren Sicht. "Ich mag es friedlich."

"Das geht sich alles einfach nicht aus", sieht ein anderer Mann die Sache ganz ähnlich. "Auf den Radwegen ist zu viel los." Vor allem stören ihn die Essenslieferanten mit den elektrisch angetriebenen Mofas und die Lastenräder – egal ob die mit den Kindern vorne drinnen oder mit den riesen Aufbauten hinten drauf. Es gebe zwei Möglichkeiten, das Problem zu lösen, ist er überzeugt: "Entweder die Fress- und Lastenradfahrer fahren auf der Straße – die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt eh kaum über 25 km/h –, oder die Radinfrastruktur wird endlich ausgebaut. Die Autos hatten viel zu lange viel zu viel Platz. Den Erfolg sehen wir eh jeden Tag." (Guido Gluschitsch, 18.5.2024)