Die beiden Wirtschaftswissenschafterinnen Tatyana Deryugina und Anastassia Fedyk schreiben in ihrem Gastkommentar über den Ukrainekrieg und darüber, was es brauchen würde, um Russland zu besiegen.

Wolodymyr Selenskyj
Hofft auf mehr Waffen und Munition aus dem Westen: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Foto: IMAGO/Ukraine Presidency via Bes

Nach monatelanger Verzögerung hat das zänkische US-Repräsentantenhaus im April endlich Militärhilfen für die Ukraine im Umfang von mehr als 60 Milliarden US-Dollar bewilligt. Zwei Jahre nach Beginn von Russlands großangelegter Invasion wächst der Pessimismus über die Fähigkeit der Ukraine, sich zu verteidigen. Die ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Sommer verfehlte ihre erklärten Ziele nach wiederholten Verzögerungen bei der Lieferung westlicher Waffen, während Russland seine eigene militärische Produktion hochfuhr und begrenzte Gebietsgewinne erzielte. Infolgedessen fragt ein wachsender Chor von Stimmen, ob es für die Ukraine und ihre Verbündeten Zeit ist, ihre Ziele zu überdenken und eine Verhandlungslösung anzustreben.

Europa hat dasselbe schon einmal erlebt. Dieselbe Frage wurde 1941 gestellt, zwei Jahre nachdem Nazideutschland mit dem Einmarsch in Polen seinen imperialistischen Eroberungszug begonnen hatte. Zu den prominenten Stimmen, die sich gegen einen Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg aussprachen, gehörte der Flugpionier Charles Lindbergh, der argumentierte, dass keine Chance auf einen Erfolg bestünde und es am besten wäre, wenn der europäische Krieg "ohne klaren Sieg enden" würde.

Doch während dies dem zunehmend defätistischen Narrativ über die Aussichten der Ukraine in gespenstischer Weise ähnelt, gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Lage war 1941 viel schlimmer. Ende jenes Jahres hielt Nazideutschland Frankreich, Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande und weite Teile Osteuropas besetzt, und es hatte seine Reichweite mit dem Einmarsch in der Sowjetunion im Juni ausgeweitet.

"Verglichen mit dem ausgezehrten Europa des Jahres 1941 ist die heutige EU deutlich besser imstande, der russischen Aggression Widerstand zu leisten."

Die ersten zwei Jahre des Zweiten Weltkriegs hatten zudem verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerungen. Die schweren Bombenangriffe auf Großstädte töteten Tausende und verursachten erhebliche wirtschaftliche Schäden. Jüdinnen und Juden aus ganz Europa wurden in Ghettos zusammengepfercht und in Konzentrationslager deportiert. Ausbeutung, gewaltsame Unterdrückung und Völkermord warfen einen düsteren Schatten auf große Teile des unter deutscher Kontrolle stehenden Gebiets.

Ungebremste Unterstützung

Nazideutschland zog Kraft aus den physischen Ressourcen und dem Humankapital der besetzten Gebiete. 1941 flossen 37 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Form von Besatzungszahlungen in die deutsche Kriegsmaschinerie. Und die Sowjetunion verlor nach dem Bruch des Molotow-Ribbentrop-Pakts durch die Nazis im Juni 1941 die Hälfte ihrer industriellen Kapazitäten und Teile ihres besten Ackerlandes.

Dieses brutale Ausbeutungssystem steht in scharfem Kontrast zu Russlands gescheiterten Versuchen, die ukrainischen Ressourcen unter seine Kontrolle zu bringen. Zum Beispiel hat der "humanitäre Korridor" der Ukraine die russische Seeblockade der Schwarzmeerhäfen des Landes durchbrochen. Infolgedessen exportierte die Ukraine im Dezember mehr Getreide als die monatliche Höchstmenge im Rahmen des von den Vereinten Nationen mit Russland ausgehandelten Deals.

Darüber hinaus waren die Mobilisierungsmaßnahmen der Ukraine während der vergangenen zwei Jahre, wiewohl beträchtlich, viel milder als jene Großbritanniens während des Zweiten Weltkriegs. Im September 1939 berief Großbritannien alle Männer im Alter von 18 bis 41 Jahren zum Zwangswehrdienst ein. Ende 1941 gab es zudem unterschiedliche Formen der Zwangseinberufung unverheirateter Frauen zwischen 20 und 30 und von Männern bis 60, wobei Männer bis 51 Wehrdienst leisten mussten. Auch zum Commonwealth gehörende ehemalige britische Kolonien – darunter Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika – steuerten Truppen zu den Kriegsanstrengungen der Alliierten bei, obwohl sie nicht direkt angegriffen worden waren.

Vereinte Macht

Was die Mobilisierung von Materialressourcen angeht, so hat sich die Europäische Union bisher schwergetan, der Ukraine die versprochenen eine Million Granaten zu liefern. Im Gegensatz dazu hatte Großbritannien zwei Jahre nach Kriegseintritt 53 Prozent seines Nationaleinkommens für die Kriegsanstrengungen ausgegeben, während die USA ihr historisches Leih- und Pachtprogramm eingerichtet hatten und – noch wichtiger – ihr komplettes Industriepotenzial auf die Verteidigungsproduktion umstellten. Diese ungebremste Unterstützung war zentral dabei, die Wende im Krieg herbeizuführen, und ermöglichte es den Alliierten, Europa aus den Klauen der Tyrannei zu befreien und den Weg für eine neue Ära des Friedens und der Zusammenarbeit auf dem Kontinent zu bereiten.

Die Ziele des russischen Präsidenten Wladimir Putin scheinen in eindeutigerer Weise zum Scheitern verurteilt als die Adolf Hitlers 1941. Russlands Militär ist mit seinem ursprünglichen Angriff auf Kiew gescheitert, wurde aus Charkiw und Cherson verdrängt und hat bisher keinerlei große Durchbrüche erzielt, und das trotz hunderttausender Toter und Verwundeter und der Zerstörung von fast einem Drittel seiner Marineflotte. Und im Vergleich zur vereinten wirtschaftlichen Macht der ukrainischen Verbündeten nimmt sich seine Klüngelwirtschaft, in der Korruption und Nepotismus allgegenwärtig sind und deren BIP größenmäßig dem von Texas entspricht, armselig aus.

Kaum Fortschritte

Verglichen mit dem ausgezehrten Europa des Jahres 1941 ist die heutige EU deutlich besser imstande, der russischen Aggression Widerstand zu leisten. Doch ist ein Sieg keinesfalls selbstverständlich; er erfordert, dass der Westen und besonders die USA ihren innenpolitischen Zank beiseitestellen und den politischen Willen aufbringen, die Ukraine militärisch und finanziell konsequent und umfassend zu unterstützen. Weitere Verzögerungen bei der Finanzierung drohen das Land in gefährlicher Weise exponiert zu lassen. Die EU ihrerseits muss die wirtschaftlichen Ressourcen für eine erhöhte Verteidigungsproduktion mobilisieren. Die jetzt erforderlichen Opfer sind nichts im Vergleich zu denen, die im Zweiten Weltkrieg gebracht wurden, doch die Dividende eines bleibenden Friedens wird nicht weniger wertvoll sein.

Zwei Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs hielt Nazideutschland 33 Prozent des europäischen Kontinents besetzt, und die anderen Achsenmächte – Italien und Japan – terrorisierten große Teile der übrigen Welt. Und doch weigerten sich die in ihrer Siegesentschlossenheit und ihrer Bereitschaft zur Mobilisierung von Ressourcen geeinten Alliierten, aufzugeben. Am selben Punkt seines imperialistischen Angriffskriegs hält Russland lediglich 18 Prozent des Gebiets der Ukraine besetzt und hat seit über einem Jahr keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Falls sich Russland als zu schwer zu besiegen erweist, liegt das nicht an einem Mangel an Ressourcen, sondern vielmehr an einem eklatanten Mangel an Führungsstärke. (Tatyana Deryugina, Anastassia Fedyk, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 1.5.2024)