Luka Modric nach Abpfiff.
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Luka Modric hatte den Ernst der Lage erkannt. 97 Minuten waren gegen Italien gespielt, Kroatien führte 1:0 und stand mit einem Bein plus vier weiteren Zehen im Achtelfinale. Der schon ausgewechselte Modric biss in sein Shirt und hatte die Augen weit aufgerissen, was angesichts der zuvor offenbarten Zahnlosigkeit des Gegners fast schon übertrieben erscheinen konnte. Aber dann spielte Riccardo Calafiori zu Davide Frattesi, der gab zurück, bevor ihm ein Gegenspieler in die Beine rauschte, und Calafiori machte Meter.

Dass gerade der Bologna-Innenverteidiger zum Dribbling ansetzte, war nicht nur der späten Verzweiflung geschuldet. Calafiori kann das, sein nunmehriger Ex-Coach Thiago Motta forderte das, und das fiel Modric und sämtlichen anderen Kroaten in diesem Moment auf den Kopf. Einen Tick zu weit mag sich Calafiori den Ball vorgelegt haben, er ist eben kein Modric, aber er bewies Übersicht wie der kroatische Mittelfeldmagier. Josip Sutalo eilte aus der Defensive heraus, mit perfektem Timing spielte Calafiori einen kurzen Diagonalball.

Unterzahl in der letzten Minute

Zum Zeitpunkt des Abspiels sind auf den TV-Kameras fünf Italiener und neun Kroaten im Bild, aber fünf Mann im Rot-Weiß-Karo laufen nur nach. Da Sutalo seinen Posten als Innenverteidiger verlässt, muss Josip Stanisic innen abdecken – und Mattia Zaccagni Platz lassen. Es ist ein klassischer Verteidigungskollaps, wie ihn ein mitstürmender Innenverteidiger in der letzten Minute leicht provozieren kann. Zaccagni sah den Ball anrollen und entschied sich, berühmt zu werden. Mit perfekter Technik versenkte er den Schuss im Kreuzeck, der zuvor nicht ausufernd beschäftigte Dominik Livakovic hatte keine Chance.

Und so stand Modric später vor Fotografen und hatte den Ernst der Lage längst erkannt, wenn auch nicht verarbeitet. Mit einem Italien-Trikot über der Schulter hielt er die Trophäe des Player of the Match wie ein Stück Atommüll in die Kamera, weniger Fingerkontakt mit dem Metallpokal wäre kaum möglich gewesen. Der leere, emotionslose Blick des kroatischen Volkshelden erinnerte an den Thousand-Yard Stare von Kriegsopfern.

Zaccagnis Kunstschuss hatte Modric um einen weiteren Gipfel seiner an Gebirgszügen reichen Karriere gebracht. Der 38-Jährige hatte in der 54. Minute einen Elfer verschossen, den Fehler 31 Sekunden später mit einem gar nicht so einfachen Abstaubertor ausgebessert und nebenbei Ivica Vastic als ältesten EM-Torschützen abgelöst. "Der Fußballgott ist nicht immer gütig", sagte Modric, und er muss das wissen, er ist quasi sein Doppelgänger.

Luka Modric brachte das hauptsächlich von Kroaten bevölkerte Leipziger Stadion mit seinem 1:0 förmlich zum Explodieren.
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Immer wieder hatte der Altstar im Entscheidungsspiel demonstriert, was ihn ausmacht. In zweiter, dritter Reihe holte er sich den Ball und machte die Defensive mit seinen lauernden Schritten nervös. Er schaute auf, täuschte an, dribbelte, las seine Gegenspieler wie einen vorhersehbaren Groschenroman, schoss, das sah gut aus, produzierte aber bis zum Treffer keinen nennenswerten Glanz.

Theoretisch lebte Kroatiens Hoffnung nach Abpfiff noch, zwei Punkte reichten dank Spaniens Sieg gegen Albanien für Gruppenplatz drei. Praktisch könnte sie schon am Dienstagabend verdampft sein. Zum Aufstieg brauchten die Vatreni die Hilfe einer ganzen Heilsarmee: England musste Slowenien mit drei Toren Differenz schlagen, dazu musste Dänemark gegen Serbien entweder gewinnen oder mit mindestens drei Toren Differenz verlieren. In Gruppe F müssen Portugal gegen Georgien und die Türkei gegen Tschechien gewinnen. Zusammengefasst: nicht extrem wahrscheinlich.

Und so saß ein gefassterer Modric vor Journalisten und durfte sich auf der Pressekonferenz eine italienische Lobpreisung anhören. "Ich möchte mich nur bedanken. Bitte höre nie auf zu spielen. Du bist einer der besten Spieler, die ich je kommentieren durfte", war die von ein paar applaudierenden Kollegen garnierte Quintessenz. "Grazie", antwortete Modric sichtlich gerührt. "Ich würde auch gerne für immer spielen, aber irgendwann muss ich aufhören. Jetzt aber mache ich weiter."

Jedenfalls weitermachen darf Italien. 281 Spielminuten lang hatten Gli Azzurri kein Tor geschossen, was bei einer drei Spiele währenden Europameisterschafts-Gruppenphase doch bemerkenswert ist. Dann kam Zaccagni. "Der Treffer ist eine riesige Freude. Ich werde mich mein Leben lang daran erinnern", sagte der erst in der 82. Minute eingewechselte Lazio-Profi. "Das Letzte, was man verliert, ist der Glaube", sagte Teamchef Luciano Spalletti. Er betonte, der Aufstieg sei "hochverdient", man habe aber auch das nötige Glück gehabt.

Am Samstag trifft Spallettis Mannschaft in Berlin auf die Schweiz, das ist keine unlösbare Aufgabe. "Wir sind besser als das, was wir bisher gezeigt haben. Wir müssen uns steigern", meinte der Trainer. Zumindest mit Letzterem dürfte er recht haben. (Martin Schauhuber aus Leipzig, 25.6.2024)