Karl Nehammer
Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer soll nach dem Gewessler-Ja zum Renaturierungsgesetz ziemlich sauer gewesen sein. Ab jetzt steht der Wahlkampf im Fokus.
APA/TOBIAS STEINMAURER

Karl Nehammer nimmt gerade an der Ukraine-Friedenskonferenz in der Schweiz teil, als in seinem Team Hektik ausbricht. Die Grünen kündigen plötzlich eine Pressekonferenz mit Leonore Gewessler an – gefühlt spontan, an einem Sonntag. Sie soll in wenigen Stunden ein Statement zum EU-Renaturierungsgesetz abgeben. Mehrere Vertraute Nehammers greifen zum Handy, telefonieren mit Grünen. Erst da sei klar geworden, so lautet die Erzählung aus dem Kanzleramt, dass Gewessler dem europäischen Vorhaben tatsächlich zustimmen wolle; dass sie "den Tabubruch" plane, wie das Vorgehen des Koalitionspartners in der ÖVP genannt wird.

In seinen öffentlichen Auftritten ist Nehammer kein Mann großer Worte, er wirkt oft hölzern, wird aufgrund seiner militärischen Vergangenheit als soldatisch beschrieben. In seinem Umfeld gilt der Kanzler und ÖVP-Chef hingegen als emotionaler Mensch. Er wisse diesen Charakterzug bloß zu verstecken.

Überlegter Mittelweg

Nehammer beruft an diesem Sonntag eine Telefonkonferenz ein. Wie immer in solchen Situationen fordert er seine engsten Mitstreiter auf, Szenarien zu skizzieren. Die Positionierung Gewesslers zum Renaturierungsgesetz war klar, unklar ist zu diesem Zeitpunkt, ob Montagfrüh in Luxemburg darüber überhaupt abgestimmt wird. Und es galt, zu entscheiden, wie der Kanzler reagiert – je nachdem, wie es kommt.

Nehammer – und das wird ihm in seiner Partei häufig vorgeworfen – ist niemand, der eilig und bestimmt Entscheidungen trifft. Sebastian Kurz galt als schnell entschlossen und dann unbeirrbar. Nehammer hingegen berät sich lange und intensiv, hört zu, wiegt ab und sucht dann einen Mittelweg. "Zuerst in der Partei, dann im Fall mit dem Koalitionspartner. Übrig bleibt oft der Mittelweg vom Mittelweg vom Mittelweg", sagt ein parteiinterner Kritiker über den Kanzler. "Deshalb weiß auch niemand, wofür er steht."

Karl Nehammer
Nehammer zu Besuch im BMW-Werk Steyr.
Christian Fischer

Vollgas und Handbremse

Freundlicher könnte man sagen: Nehammer ist ein Kompromissmensch. In fast allen anderen Parteien genießt er überraschend großen Respekt, in der ÖVP gilt er selbst bei wenig gönnerhaften Kollegen als besser als sein Ruf – außerdem sei er aktuell alternativlos. Was Nehammer aber selten bis gar nicht schafft, ist: Euphorie auslösen.

Auch nachdem Gewessler am Montag dann für das europäische Naturschutzgesetz gestimmt hat – gegen den ausdrücklichen Willen der Volkspartei –, schlägt Nehammer den Mittelweg ein. Er verurteilt den Alleingang; erklärt, dass die Grünen Recht gebrochen, die Verfassung ignoriert hätten; die Ministerin gar nicht befugt gewesen sei, so abzustimmen. Die ÖVP zeigt die Klimaministerin auch wegen Amtsmissbrauchs an. Was Nehammer nicht macht, ist, den Bundespräsidenten um Auflösung der Regierung oder die Entlassung Gewesslers zu ersuchen. Das Motto: Vollgas im Verbrenner mit angezogener Handbremse. Es könnte der Leitspruch von Nehammers Kanzlerschaft sein.

In der ÖVP ist Nehammers Vorgehensweise umstritten. Viele hätten sich mehr Härte gegenüber den Grünen gewünscht, die der ÖVP aus Sicht vieler Konservativer ohnehin schon viel zu lange auf der Nase herumtanzen. Intern soll Verfassungsministerin Karoline Edtstadler Druck gemacht haben, dass der Kanzler Gewessler aus der Regierung kickt. Der ÖVP-Mann und frühere EU-Kommissar Franz Fischler erklärt später auch öffentlich in der Kronen Zeitung, dass der Bundeskanzler die grüne Ministerin hätte "entlassen müssen". Es wäre wohl der innerparteilich populärere Weg gewesen.

Kein Platz für Chaos

Nehammer selbst sagt, dass "die Emotion" durchaus da war, alles hinzuwerfen. Doch als Kanzler sei er dafür zuständig, dass die Dinge geordnet laufen. Da sei kein Platz für ein Ende der Koalition und "Chaos" kurz vor der Wahl im Herbst.

Er ist ein Politiker, der wenig polarisiert und dadurch auch wenig auffällt – weder negativ noch positiv. Seit Nehammer vor zweieinhalb Jahren die ÖVP und das Kanzleramt übernommen hat, sind seine Strategen auf der Suche nach dem richtigen Profil für den Mann, der Österreich lenkt. Bissig könnte man sagen: Er hat bis heute keines – und inzwischen wurde seine fehlende Profilierung zur Strategie erhoben.

Denn das Bild, das die ÖVP in diesem Wahlkampf vermitteln möchte, ist: Wir sind die Mitte. Bedeutet: für viele irgendwie wählbar – und dadurch für wenige die perfekte Wahl.

Massiver Absturz

Den Konservativen gilt SPÖ-Chef Andreas Babler als verträumter Marxist vom linkslinken Rand. FPÖ-Obmann Herbert Kickl wurde von Nehammer persönlich zum rechtsextremen Sicherheitsrisiko erklärt. Dazwischen – so die türkise Hoffnung – müsse viel Platz sein. Für Menschen, die beides nicht wollen und sich schlussendlich auf jenen Mann "in der Mitte" einigen können, der kaum aneckt: Nehammer. Denn selbst "restriktive Ausländerpolitik", ist man in der ÖVP überzeugt, ist längst zum Wunsch der Mitte geworden.

In Umfragen zeichnet sich nicht ab, dass die Mittestrategie aufgeht. Seit vielen Monaten liegt die ÖVP in allen Erhebungen auf Platz drei hinter SPÖ und FPÖ. Doch die EU-Wahl lässt die parteiinterne Hoffnung wieder keimen. Die Volkspartei ist zwar um zehn Prozentpunkte massiv abgestürzt, kam aber näher an der FPÖ zum Liegen als prognostiziert – und auf Platz zwei. Für Nehammer bedeutet das zumindest, dass seine Partei nicht schon demotiviert in den anlaufenden Wahlkampf trottet.

Türkise Träume

An seiner Erzählung für die Wahl arbeitet er schon lange. Nach seiner Angelobung als Kanzler im Dezember 2021 erklärte er sich zum "lernenden Kanzler" und in Abgrenzung zu Kurz zum normalen, nahbaren Politiker. Danach hatte er eine Phase, in der er einen starken außenpolitischen Fokus entwickelte. Der Krieg in der Ukraine hat ihn ehrlich berührt, er versuchte, sich als Staatsmann in Szene zu setzen. Die Umfragen blieben mau.

Und so begann die ÖVP, die Strategie zu entwickeln, die "normale" Partei für normale Bürgerinnen und Bürger zu sein. Wenige Ecken und Kanten – und in Asylfragen die etwas softere FPÖ. Kann das noch aufgehen?

In der Volkspartei ist die klare Abgrenzung zu Kickl, die Nehammer vorlebt, nicht jedem recht. Es gibt bis heute viele Türkise, die der Kurz-Koalition mit den Freiheitlichen nachtrauern. Das Traumszenario der Nehammerianer ist, dass die ÖVP bei der Wahl doch knapp den ersten Platz schafft, die Freiheitlichen Kickl beiseiteschieben – und Nehammer eine Regierung mit der Rest-FPÖ anführen kann. Doch auch in der ÖVP weiß man, dass dieses Szenario nicht besonders realistisch ist.

Karl Nehammer
Der ÖVP-Chef ist bekannt dafür, dass er sich lange und intensiv berät und einen dann Mittelweg sucht.
APA/MAX SLOVENCIK

Bande zur SPÖ knüpfen

Nehammer und seine Leute sind deshalb derzeit dabei, Bande zur SPÖ zu knüpfen – möglichst an Babler vorbei. Zu Wiens rotem Finanzstadtrat Peter Hanke pflegt der Kanzler ein fast freundschaftliches Verhältnis. Auch mit Bürgermeister Michael Ludwig habe er eine gute Basis, heißt es aus der ÖVP. Womöglich ist Nehammer persönlich vom Typ auch tatsächlich eher ein Großkoalitionär. Bloß wird die große Koalition von einst nach der Wahl wohl arithmetisch nicht möglich sein – und Volkspartei und SPÖ bräuchten einen Dritten: die Neos oder die Grünen.

Niemand in der ÖVP schließt aus, dass die Grünen trotz Gewessler-Ja nach der Wahl doch wieder ein Koalitionspartner werden. Aber, so sagen viele, Nehammer hätte in der Basis großen Erklärungsbedarf, würde er ein Bündnis schmieden mit den verhassten Ökos.

Nehammer sitzt jedenfalls gerade wieder fester im Sattel als in vielen Monaten zuvor. Sollte die ÖVP bei der Wahl Zweiter werden, wird das als Erfolg gefeiert werden. Seine Chancen, in der nächsten Regierung zu sein, sind jedenfalls erheblich größer als jene Gewesslers. Das ist für manche Konservative – zumindest derzeit – genug der Genugtuung. (Katharina Mittelstaedt, 22.6.2024)