Leonore Gewessler
Leonore Gewessler ist die neue Lichtgestalt der Grünen – und das erklärte Feindbild der ÖVP. Mit beidem kann sie gut leben, sie geht mit Selbstbewusstsein in die letzten Koalitionswochen.
IMAGO/Martin Juen

Leonore Gewessler ist der Gegenentwurf zu Werner Kogler: Der ist impulsiv, emotional, fahrig, sehr spontan, wenig organisiert und Genüssen nicht abgeneigt. Gewessler wirkt ein wenig kühl, ist aber immer freundlich, sie ist sehr organisiert, strukturiert und kontrolliert. Was ihr vielleicht fehlt: das letzte Alzerl Charme, das Charisma einer starken Führungskraft. Sie gilt als die logische Nachfolgerin von Kogler als Parteichefin, seit dem vergangenen Wochenende ist sie der unumstrittene Star der Grünen. Eine Superheldin, die Göttin der Natur, wie manche spöttisch anmerken.

Mit der Zuschreibung Superheldin kann sie wenig anfangen, sagt Gewessler im Gespräch mit dem STANDARD, "aber ja, es berührt mich sehr, wie viele Menschen sich gemeldet haben und mir die Rückmeldung gegeben haben, dass auch ihnen der Naturschutz ein Herzensanliegen ist".

Geschärftes Profil

Mit ihrer Ankündigung, jetzt sei die Zeit der Entschlossenheit gekommen, und der dann erfolgten Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz hat Gewessler nicht nur ein Gesetz auf EU-Ebene möglich gemacht, sie hat auch die ÖVP vorgeführt und gedemütigt, wichtiger noch: Sie hat den Grünen den perfekten Wahlkampfauftakt beschert. Mit der Aktion von Gewessler, die in der Regierung gelegentlich etwas blass rüberkommt, haben die Grünen wieder jenes scharfe und kantige Profil bekommen, das sie brauchen, um glaubwürdig ihren Einsatz nicht nur für den Umweltschutz, sondern für die Rettung der Welt zu demonstrieren.

Dass ihre Entscheidung etwas mit dem Wahlkampf zu tun haben könnte, weist Gewessler zurück, sie sei ihrem Gewissen gefolgt – und habe sich juristisch abgesichert.

Leonore Gewessler
"Es ist typisch, dass man Frauen mit großem Fachwissen emotionale Defizite unterstellt", findet Peter Kraus, Chef der Wiener Grünen.
APA/DIETMAR STIPLOVSEK

Reaktivierte Aktivistin

In der Koalition mit der ÖVP kam den Grünen vieles abhanden, was die Stammwählerschaft an ihnen schätzt. Der Einsatz gegen die Klimakatastrophe ist ein wesentliches Merkmal der Grünen, stärker noch als das Engagement für eine saubere Politik und gegen Korruption. Beides hat in der Koalition mit der ÖVP gelitten, das Profil wurde zunehmend verschwommen, der Weg vom Aktionismus ins Establishment war ein kurzer. Anspruch und Wirklichkeit drifteten auseinander.

Und dann wurde aus einer ehemaligen Aktivistin wieder die Aktivistin. Leonore Gewessler, die nach außen hin eher brav und angepasst wirkte, inszeniert plötzlich den Aufstand gegen die ÖVP. Gegen den dezidierten Willen des Koalitionspartners stimmte sie dem Renaturierungsgesetz zu und gab tatsächlich den letzten Ausschlag, dass dieses Vorhaben auf europäischer Ebene mit hauchdünner Mehrheit durchging.

Tränen der Freude

Kanzler Karl Nehammer war stinksauer, die Koalition wurde auf Notbetrieb heruntergefahren, Gewessler wegen Amtsmissbrauchs angezeigt. Sie ist das neue Feindbild der ÖVP. Auf europäischer Ebene hat sich Österreich mit dem internen Streit maßlos blamiert, andere Umweltminister sollen aus Freude über den Erfolg des Gesetzes aber sogar geweint haben. Erzählt man sich bei den Grünen. Am Heldenepos wird fleißig gestrickt.

Die 46-Jährige sei durchaus ein politischer Kopf, sagt Hanna Simons, stellvertretende Geschäftsführerin des WWF. Sie kennt Gewessler aus gemeinsamen Zeiten, als sie als Umweltschutzaktivistinnen, Gewessler bei Global 2000, Simons bei Greenpeace, Seite an Seite gekämpft haben. Gewessler sei es immer um die Sache gegangen, und das mit einer bemerkenswerten Uneitelkeit: Ihr gehe es nicht um die Profilierung, sondern um die Umsetzung.

Gewissenhafte Sachbearbeiterin

Was alle, die sie kennen und mit ihr arbeiten hervorstreichen, ist der enorme Arbeitseifer der Steirerin. Und dass sie dabei immer freundlich bleibe. Gewessler hat keine Kinder und eine Partnerschaft, die ihr offenbar jenen Freiraum lässt, den sie braucht, um sich mit voller Wucht beruflich reinhauen zu können. Dieses Engagement und die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit hatte Gewessler schon in Zeiten bei Global 2000, wo sie kein Podium ausließ, um ihre Anliegen auch nach außen zu transportieren. Nicht aus Wichtigtuerei, sondern aus dem Drang heraus, andere überzeugen zu wollen, erzählt Simons. Und längst habe Gewessler verstanden, wie Politik gemacht werde, merkt die WWF-Chefin an, die damit zart andeutet, dass Gewessler auch über ihren jetzigen Job hinaus einsetzbar sei.

Dass ihr Charme oder Charisma fehle, weist Peter Kraus, Chef der Wiener Grünen, zurück: "Es ist typisch, dass man Frauen mit großem Fachwissen emotionale Defizite unterstellt, um sie klein zu machen." Gewessler verbinde soziale Kompetenz mit inhaltlicher Präzision, behauptet Kraus, der die Klimaschutzministerin seit dem gemeinsamen Kampf gegen den Lobautunnel noch mehr schätzt. Erstaunlich seien die Beharrlichkeit und die Geduld, die sie aufbringe, um ihre Anliegen umzusetzen. Jetzt sei eben der richtige Zeitpunkt gewesen, ein Gesetz durchzubringen – und damit der eigenen Partei einen strategischen Vorteil zu verschaffen. Das war freilich eine gut orchestrierte Teamleistung, in die Kogler noch das Gfeanzte einbrachte, also diesen Hauch an Bösartigkeit, um der ÖVP auch wirklich wehzutun.

Gewessler, Schilling
Leonore Gewessler unterstützte auch die ehemalige Spitzenkandidatin Lena Schilling (Zweite von links) bei ihrem EU-Wahlkampf.
Heribert Corn

Riesenressort für die Neue

Gewessler ist 2019 von Global 2000 zu den Grünen gewechselt, wo sie ideologisch und über die Grüne Bildungswerkstatt längst angedockt war. Sie kandidierte auf Platz zwei der Bundesliste, war Teil des grünen Verhandlungsteams während der Sondierungen und wurde prompt Ministerin im größten Ressort, das die Regierung aufzubieten hat: Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie – für die Grünen das zentrale Schlüsselressort. Dennoch kam Gewessler in der öffentlichen Wahrnehmung kaum über die Schwelle der Bedeutsamkeit: Mit Umweltschutz war nicht zu punkten. Der Fokus lag woanders: erst auf Corona, dann auf dem Ukrainekrieg, später bei der Teuerung.

Gewessler werkte unbeirrt und setze um, was auf ihrer Agenda stand: Umweltticket, Flaschenpfand und CO2-Bepreisung. Auch den Stopp für den Lobautunnel in Wien und die Bodenseeschnellstraße S18 in Vorarlberg verbuchen die Grünen als Erfolg. Endgültig gescheitert ist das Klimaschutzgesetz. Dieses grüne Prestigeprojekt war gegen den Widerstand der ÖVP nicht umzusetzen und ist es jetzt erst recht nicht. Die bestehende Abhängigkeit vom russischen Gas ist ebenfalls nichts, was Gewesslers Bilanz schmückt.

Gfeanzt genug?

In ihrem Ministerium am Schubertring ist Gewessler dafür bekannt, sich für alle Zeit zu nehmen, für die Assistentin und den Sektionschef. Briefings überfliegt sie – und hat sie intus.

Was ihre Fans, und dazu zählt sich auch Klubchefin Sigrid Maurer, entzückt, ist die Kombination aus Herzlichkeit und Gewissenhaftigkeit. "Sie ist eine Supermanagerin, aber sehr nahbar", sagt Maurer und verweist darauf, dass Gewessler keinen Dienstwagen hat und mit Fahrrad oder U-Bahn unterwegs sei.

Im Wahlkampf wird Gewessler eine zentrale Rolle spielen, aber das sei ohnedies so geplant gewesen, sagt Maurer. "Sie hat bei uns längst ihren Heldinnenstatus, den hat sie jetzt nur neu betont." Diesem EU-Gesetz zuzustimmen sei nicht nur in der Sache, sondern auch für die Grünen extrem wichtig, räumt Maurer ein. Die Pressekonferenz, in der Gewessler ihre Entscheidung kundtat, "war ganz großes Kino", schwärmt die Klubchefin und fügt eine Boshaftigkeit an: im Gegensatz zu jenem Brief in schlechtem Englisch, den Kanzler Karl Nehammer und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler nach Brüssel geschickt hatten.

Kann Gewessler Parteichefin oder ist sie doch die gewissenhafte Sachbearbeiterin? Personen aus ihrem Umfeld merken vorsichtig an, dass Gewessler möglicherweise zu integer sei für einen Job in der Spitzenpolitik, dass ihr für die Führung der Partei das Gfeanzte fehle, also die Bösartigkeit und die Hinterlist, den politischen Gegner – oder den Partner – in eine Falle laufen zu lassen. Aber auch darin erlangt sie langsam eine gewisse Fertigkeit. (Michael Völker, 22.6.2024)