Demonstrantin auf Straßenschild
Demonstrationen in Israel richten sich zunehmend nicht nur gegen die Regierung, sondern teils auch gegen den Krieg.
REUTERS/Eloisa Lopez

Seit bald neun Monaten tobt der Krieg in Gaza, und kein Ende ist in Sicht – vielleicht droht sogar bald zusätzlich der offene Krieg mit der Hisbollah im Libanon. Die vergangenen Monate brachten Massensterben und eine humanitäre Katastrophe im Gazastreifen, aber immer noch keinen Sieg über die Hamas und darüber hinaus auch keine Perspektive auf eine Rückkehr der Geiseln aus Gaza. Wäre das nicht schon genug, steckt Israel auch innenpolitisch in argen Turbulenzen.

Wo soll das hinführen? Ein Kompass aus israelischer Perspektive.

Der Süden – Gaza

Vergangene Woche sprach Israels oberster Armee-Kommunikator aus, was Militärexperten in Israel schon lange sagen: Die Hamas in Gaza vollständig zu besiegen ist Wunschdenken – zumindest kurzfristig und rein militärisch. Ein Führungswechsel braucht Zeit und vor allem Strategie.

Wie kann das gelingen? Zunächst braucht es eine klare Definition der Kriegsziele. Wann ist der Punkt erreicht, an dem sich Israel aus dem Gazastreifen zurückziehen kann? Auch mehr als acht Monate nach Kriegsbeginn fehlt es hier an messbaren Vorgaben durch Israels Sicherheitskabinett.

Sie machen einen großen Unterschied: Wenn es darum geht, die Hamas militärisch nachhaltig zu schwächen und einen neuen Terrorangriff wie jenen vom 7. Oktober zumindest mittelfristig unmöglich zu machen, dann ist das Ziel bereits erreicht. Geht es darum, die Hamas – wie Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beharrlich betont – "vollständig zu besiegen" und ihr Führungspersonal auszuschalten, dann ist Israel womöglich noch Jahre von seinem Ziel entfernt.

Zwischenlösung

Eine Zwischenlösung wäre, sich jetzt auf das Kappen der militärischen Versorgungswege aus Ägypten zu konzentrieren. Genau das versucht Israels Armee entlang des Philadelphi-Korridors an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Auf klare politische Vorgaben, wann es genug ist, wartet die Armeeführung jedoch vergeblich, wie auch der überraschende Appell von Armeesprecher Daniel Hagari verdeutlicht hat.

Diese fehlende Klarheit behindert auch die Verhandlungen rund um einen Deal für einen Waffenstillstand und für eine Befreiung der Geiseln aus Hamas-Gewalt. Die Zeit drängt: Laut jüngsten Schätzungen sind nur noch fünfzig der rund 120 Geiseln am Leben.

Und je länger die Kämpfe im Süden des Gazastreifens andauern, desto mehr Opfer wird auch die stockende Versorgung mit humanitären Gütern unter den Binnenvertriebenen in Gaza fordern. Auch hier fehlt es an längerfristigen Strategien: Wer dafür sorgen will, dass humanitäre Güter an ihr Ziel gelangen und internationale Helfer ihre Arbeit in relativer Sicherheit erledigen können, muss das Machtvakuum füllen, das der von der Hamas ausgelöste Krieg in Gaza verursacht hat. Das wird nicht ohne Israels Partner in der arabischen Welt funktionieren, aber auch nicht ohne Beteiligung der Palästinenser. Genau hier legt sich jedoch Israels aktuelle Regierung unter Benjamin Netanjahu quer.

Der Norden – Libanon

Sollte Israel eine großangelegte Libanon-Offensive starten, droht an der nördlichen Front ein weiterer Krieg. Es wäre ein Krieg, der lange dauern könnte und wohl keine Gewinner bringen würde. Die Hisbollah militärisch zu vernichten ist angesichts der stabilen Versorgung durch den Iran illusorisch. Der Krieg würde zudem mehrere Fronten einbeziehen und auch Syrien und den Irak involvieren. Israels Armee wäre dem militärischen Druck zwar gewachsen, betont Militärexpertin Talia Lankri. Schwere Schläge auf Israels Infrastruktur wären aber nicht auszuschließen, Lankri sieht hier die größte Gefahr.

Was auf diesem Gebiet konkret drohen könnte, verdeutlichte Shaul Goldstein, Generaldirektor des israelischen Stromnetzbetreibers Noga, am Donnerstag auf dramatische Weise: Ein Lahmlegen der Stromversorgung in Israel wäre für die Hisbollah ohne großen Aufwand zu bewerkstelligen. Ein solcher Angriff würde das zivile Leben in Israel binnen weniger Tage lahmlegen – Stichwort Wasserversorgung. Auf ein solches Szenario sei Israel "nicht vorbereitet", kritisiert Goldstein.

Eskalation verhindern

Was kann nun geschehen, um die totale Eskalation zu verhindern? Die USA setzen auf den Verhandlungsweg. Vergangene Woche war der Sonderbeauftragte Amos Hochstein in Israel und Beirut, um Gespräche für eine diplomatische Lösung zu führen. Medienberichte, wonach auch diese Gesprächsrunde gescheitert sei, dementierte das Weiße Haus. Es scheint sich in Washington aber die Ansicht durchgesetzt zu haben, dass von der Hisbollah keine Garantien für einen Rückzug von der Grenze zu erhalten sind, solange der Krieg in Gaza tobt. Dort versucht die Miliz, mit regelmäßigen Angriffen Israels Armee zu binden, viele Israelis mussten deshalb aus der Region fliehen.

Die jüngsten Gespräche Hochsteins in Beirut sollten vor allem abklären, wie im Fall eines Waffenstillstands in Gaza eine Beruhigung an der israelisch-libanesischen Grenze abgesichert werden kann, um den Zehntausenden Menschen auf beiden Seiten der Grenze die Rückkehr in ihre Dörfer zu erlauben.

Tausende Menschen demonstrieren in Jerusalem gegen Regierungschef Netanjahu
In Israel sind tausende Menschen gegen die Kriegsführung von Regierungschef Benjamin Netanjahu im Gazastreifen und für vorgezogene Wahlen auf die Straße gegangen. Nach mehr als acht Monaten Krieg im Gazastreifen steht Netanjahu innenpolitisch massiv unter Druck.
AFP

Der Osten – Westjordanland

Eines der unerreichten Ziele der Hamas war es, auch im Westjordanland eine neue Front gegen Israels Armee aufzumachen. Das ist nicht gelungen, wenngleich die Sympathien für die Terrorgruppe hier zunehmen. Berichte über die Gräueltaten am 7. Oktober werden laut einer aktuellen Umfrage unter Palästinensern im Westjordanland überwiegend verharmlost und als Propaganda verzerrt. Manche wiederum leugnen die Kriegsverbrechen nicht und heißen sie sogar gut.

Die Palästinenserbehörde unter Mahmud Abbas hat seit dem 7. Oktober an Rückhalt eingebüßt – ausgehend von äußerst niedrigen Werten. Viele Palästinenser halten Abbas für einen Handlanger der israelischen Besatzung.

Warnung vor Kollaps

Dieses Besatzungsregime schränkt das Leben der Palästinenser nun noch drastischer ein als vor dem 7. Oktober. Zusätzliche Straßensperren und Checkpoints im Westjordanland behindern den Berufsverkehr massiv. Die mindestens 100.000 Arbeitsmigranten, die ihre Familien mit systemrelevanten Arbeiten in Israel erhalten, standen nach dem 7. Oktober plötzlich ohne Einkommen da, da Israel ihre Einreise dauerhaft stoppte. Israels Armeeeinsätze in Dschenin, Tulkarem und an anderen Orten der Westbank haben seit dem 7. Oktober laut UN-Angaben mehr als 380 Tote gefordert, ein Fünftel der Toten waren Kinder. Gewaltbereite Siedlergangs gehen mit nie gesehener Brutalität gegen palästinensische Bauern vor und vertreiben sie aus ihren Dörfern, um das frei gewordene Land für neue illegale Siedlungen zu nutzen. Die Armee schreitet nur in seltenen Fällen gegen den Siedlerterror ein.

Zudem wird die Westbank auch finanziell ausgehungert: Da Israels Finanzminister Bezalel Smotrich sich weigert, der PA zustehende Zolleinnahmen weiter zu überweisen, fehlt auch dieser wichtige Teil des Budgets. Die USA warnen zu Recht vor einem Kollaps der Palästinenserbehörde. Dieser hätte auch für Israel verheerende Auswirkungen – nicht zuletzt angesichts des momentan starken Mobilisierungspotenzials der Hamas.

Das Zentrum – Die Innenpolitik

Wenn am kommenden Samstag wieder zehntausende Israelis auf die Straßen gehen, um zu protestieren, dann tun sie das – anders als noch vor einem halben Jahr – nicht mehr nur, um die Freilassung der Geiseln zu fordern. Immer mehr von ihnen rufen nun "Wahlen jetzt!". Und 76 Prozent der Israelis sind laut einer aktuellen Umfrage der Hebräischen Universität in Jerusalem der Meinung, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zurücktreten sollte.

Der Regierungschef wird nicht nur für das Versagen im Vorfeld des 7. Oktober verantwortlich gemacht, sondern auch für mangelndes Krisenmanagement danach: Anstatt sich mit aller Kraft für die Rückkehr der Geiseln einzusetzen, verstrickt sich Netanjahu in Koalitionszank über den Modus der Rabbiner-Bestellung und die Frage der Wehrdienstverpflichtung für ultraorthodoxe Männer.

Kursänderung unwahrscheinlich

Obwohl mehr als zwei Drittel der Israelis vorgezogene Wahlen fordern, bedeutet das aber noch lange nicht, dass es diese auch geben wird. Es braucht nämlich mehr als eine Handvoll Abtrünnige in Netanjahus Koalition, um den Neuwahlmechanismus auszulösen. Noch wurden diese Dissidenten nicht gefunden. Dass der Druck der Straße die Regierung in die Knie zwingen wird, ist zu bezweifeln. Wahrscheinlicher ist, dass die Koalition an der Frage der Wehrpflicht für Ultraorthodoxe zerbricht. Das könnte sich bereits in den kommenden Wochen zeigen.

Eine Nachfolgeregierung würde mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit einen Wechsel an der Regierungsspitze bringen. Dass die Nachfolgeregierung dann einen außenpolitisch völlig anderen Kurs einschlägt, ist aber nicht zu erwarten. Auch wenn Netanjahu sich gerne als einziger Gegner eines Palästinenserstaates präsentiert: Seine möglichen Nachfolger an der Regierungsspitze – sei es nun Zentrumspolitiker Benny Gantz oder Ex-Premier Naftali Bennett – gelten auch nicht als glühende Verfechter einer Zweistaatenlösung. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 22.6.2024)