Extremistische Ideologien sowie Verschwörungsmythen würden immer weiter in den Mainstream vordringen, sagt Wissenschafterin Julia Ebner. Für ihre Forschung an der Universität Oxford wurde die gebürtige Österreicherin am Freitag mit dem Open Society Prize der Central European University (CEU) geehrt. Im STANDARD-Interview spricht Ebner über Radikalisierung und darüber, was rechte, linke und jihadistische Extremisten verbindet.

Extremismusforscherin Julia Ebner: "Die größte Gefahr ist ein Zurück in die Vergangenheit."
Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Sie setzen sich bereits seit langem mit Radikalisierung – im Rechtsextremismus wie auch Islamismus – intensiv auseinander. Wo sehen Sie derzeit die größte Gefahr in Europa?

Ebner: In der Vergangenheit habe ich mich besonders mit dem Potenzial für Gewalt beschäftigt, sehe aber aktuell die größte Gefahr im Mainstreaming der extremistischen Ideologien und Verschwörungsmythen. In den vergangenen Jahren sind viele der Symbole, der Sprache und Verschwörungsmythen, die ich früher am Rande der Gesellschaft und in den dunkelsten Ecken des Internets beobachtet habe, immer mehr in den Mainstream vorgedrungen und beeinflussen auch den gesellschaftlichen sowie politischen Diskurs. Die größte Gefahr ist, dass es ein Zurück in die Vergangenheit gibt, wo eventuell Menschenrechte und die Grundsteine unserer Demokratie auf dem Spiel stehen könnten.

STANDARD: Wie werden radikale Ideologien massentauglich?

Ebner: Es kommen unterschiedliche Dinge zusammen. Zum einen eine größere Anfälligkeit in der Bevölkerung, radikale oder extremistische Ideologien in das eigene Weltbild aufzunehmen. Diese Ideologien setzen oft an bestehenden Bedürfnissen an, an tatsächlichen Ängsten, Frustrationen oder Unsicherheiten. Diese sind jetzt mit dem Krieg in Krisenzeiten noch mehr angestiegen. Zugleich haben wir schnelle Entwicklungen neuer Technologien. Extremistische Bewegungen sind extrem gut darin, die neuen Technologien für ihre Zwecke zu nutzen. Es ist ein Zusammenkommen von Anfälligkeit auf der Nachfrageseite und dem, dass auf Angebotsseite viel getan wird, um Menschen zu manipulieren.

STANDARD: Welche Ängste werden bedient?

Ebner: Einerseits, dass der Fortschritt zu schnell ist. Da kommen viele nicht mit oder können sich nicht schnell genug anpassen. Sie haben das Gefühl, zurückgelassen zu werden. Andererseits finden viele, dass nicht genug passiert, um Veränderungen voranzutreiben; dass die sogenannten politischen Eliten nicht auf ihre Bedürfnisse hören und nichts unternehmen, um etwa soziale Ungerechtigkeiten zu adressieren.

STANDARD: Wer ist besonders anfällig dafür?

Ebner: Ich habe in meinen Beobachtungen sowohl durch Undercover-Recherchen als auch in meinen akademischen Analysen kein demografisches Profil für Menschen gefunden, die in extremistischen Bewegungen oder Netzwerken landen oder extreme Ideologien annehmen. Es sind Menschen aller Altersgruppen, aller sozioökonomischen Klassen und aller Bildungshintergründe tendenziell betroffen. Die Gemeinsamkeit – das betrifft alle extremistischen Ideologien – ist, dass oft eine Identitätskrise der einen oder anderen Art vorliegt. Deswegen sind immer mehr auch junge Menschen betroffen, vor allem im Teenageralter oder in der Pubertät. Die Zahlen der Radikalisierung steigen hier stark an, Teenager sind eine Zielgruppe, an die sich sehr viele extremistische Bewegungen ganz explizit richten. Aber auch Menschen in der Midlife-Crisis sind anfällig. Bei QAnon lag der Altersschnitt bei 40 plus. Es sind Menschen auf der Suche nach Zugehörigkeit.

STANDARD: Viele Junge haben in Deutschland bei der EU-Wahl die AfD gewählt. Wie schafft es die Partei, die Jugendliche anzusprechen?

Ebner: Im Vorfeld der Europawahl habe ich sehr strategisch gewählte Taktiken rechtspopulistischer Parteien beobachtet und analysiert. Die AfD und auch die FPÖ spielen da ganz vorne mit. Sie wissen, wie sie sich an junge Zielgruppen richten. Sie sind auf Plattformen wie Facebook und Instagram sehr stark mit Kampagnen vertreten, die sich an diese junge Zielgruppe richten. Und sie sind zum Teil gut informiert, was Jugendkultur und Internetkultur betrifft, und bauen in ihre Kampagnen Popkulturelemente ein. Das ist etwas, das die Neue Rechte auch davor schon verwendet hat. Es ist auch ein bisschen ein Augenzwinkern in diese Richtung.

Extremismusforscherin Julia Ebner sieht eine "Wechselwirkung zwischen rechten Influencern und islamistischen Netzwerken".
Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Der österreichische Verfassungsschutz beobachtet radikale Prediger, die mit Tiktok ebenfalls eine große Bühne haben, um viele Jugendliche anzusprechen.

Ebner: Auch hier gab es eine Wechselwirkung zwischen rechten Influencern und islamistischen Netzwerken. Mittlerweile verwenden selbst die Salafi-Jihadisten teilweise ähnliche Taktiken, die wir davor in der Alt-Right und in der Neuen Rechten gesehen haben. Es sind ähnliche Memes und visuelle Inhalte. Auch für Jihadisten sind jungen Menschen eine Zielgruppe. Wenn man einen radikalen Wandel bewirken möchte, dann sind sie die strategisch Wertvollsten, weil sie die Generation sind, die die Zukunft am stärksten beeinflussen wird.

STANDARD: Sie haben sich in Ihrer Recherche bei radikalen Gruppen eingeschleust. Was ist Ihr Rezept, sich vor Radikalisierung zu schützen?

Ebner: Das ultimative Rezept habe ich leider auch nicht. Aber gerade im Bildungsbereich kommt die Schnittstelle von Psychologie und Digitalkompetenz zu kurz. Es sollte in einem schulischen Kontext, aber auch im außerschulischen Bereich für die "digitalen Migranten" – also die älteren Generationen – ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie man sich auch selbst besser versteht in diesem neuen, anderen Rahmen. Wir alle sind uns nicht bewusst genug, wie stark das Internet und soziale Medien unsere Identität beeinflussen, auf unsere Psyche einwirken und Gruppenprozesse beschleunigen oder verstärken können. Was ich in meinen Recherchen gesehen habe, ist, dass die sozialen Aspekte und der Sozialisierungsprozess eine größere Rolle spielen als die ideologische Indoktrinierung. Die ist oft nachgelagert.

STANDARD: Sie untersuchen das Phänomen der Identitätsfusion – wie funktioniert das?

Ebner: Es geht darum, dass die eigene, persönliche Identität mit der Gruppenidentität komplett zu einem wird, also äquivalent wird. Wenn dann noch andere Faktoren dazukommen, wie etwa eine wahrgenommene existenzielle Bedrohung für die Gruppe, mit der man verschmolzen ist, und dann noch eine Dehumanisierung oder Dämonisierung von einer Außengruppe, sind Menschen besonders bereit dazu, sich für die eigene Gruppe extreme Taten zu begehen – zum Beispiel Gewalt oder auch Terror.

STANDARD: Was muss passieren, dass Worten auch Taten folgen?

Ebner: Es gibt zwei potenziell gefährliche Konsequenzen auf der Handlungsebene: die Gefahr von Terror und Gewalt durch Einzelne, die sich durch die Rhetorik bestärkt fühlen – nicht nur in ihren Ideologien, sondern auch in der Dringlichkeit, etwas zu unternehmen. Ich habe statistische Analysen von Manifesten zu Terroranschlägen durchgeführt, und ein Faktor von mehreren ist die Dehumanisierung und Dämonisierung einer großen Gruppe. Dazu kommen gewaltbefürwortende Normen. Die andere Ebene ist – das untersuche ich aktuell in meinem Projekt in Oxford –, wie es auch zu staatlicher Gewalt kommen kann. Auch hier sind die Grenzen recht fließend. Ich analysiere Fälle von Genoziden und Massenmorden, die von staatlichen Akteuren durchgeführt wurden. Auch hier gibt es ganz klare Muster, die immer wieder auftreten. Es beginnt mit einer Radikalisierung auf staatlicher Ebene. Dann gibt es Zwischenschritte Richtung Gewalt, und am Ende kann es zu Massenmorden oder Genoziden führen. Es besteht immer die Gefahr, dass man am Ende auch am radikalsten Punkt endet.

STANDARD: Welchen Beitrag leisten allgemeine Krisen für Radikalisierung?

Ebner: Sie bieten Eingangstore, öffnen neue Zielgruppen und neue Möglichkeiten für extremistische Bewegungen. In der Pandemie waren Menschen, die unter Einsamkeit gelitten haben, und jene, die vielleicht ohnehin schon zu Ängsten vor Impfstoffen oder der Gesundheitskrise geneigt haben, besonders anfällig. Auch vorher, in der sogenannten Migrations- und Flüchtlingskrise, wurden besonders Menschen angezogen, die bestehende und teilweise auch legitime Ängste hatten. Bei dem Nahostkonflikt sieht man nun ähnliche Dynamiken. Dadurch, dass hier auch viel Desinformation geteilt wird und das Thema so emotional behaftet ist, kommt es besonders schnell dazu, dass sich Menschen in die eine oder andere Richtung radikalisieren. Dieser Identitätsfusionsprozess entsteht durch das Teilen negativer oder traumatisierender Erfahrungen.

STANDARD: Wie nachhaltig beeinflusst die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft?

Ebner: Es ist extrem schwer, rückgängig zu machen, was die Nebeneffekte der Pandemie bewirkt haben. Wir werden die sozialen Nachwirkungen der Corona-Krise noch jahrelang, wenn nicht sogar jahrzehntelang sehen. Menschen haben ihr Vertrauen in die Institutionen aufgegeben – ob in die Medien, die Wissenschaft oder die Politik und zum Teil sogar die Demokratie.

Extremismusforscherin Julia Ebner ist der Meinung, dass Verschwörungsmythen auf den immergleichen Musstern und Narrativen aufbauen.
Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Viele Verschwörungsmythen, mit denen wir heute konfrontiert sind, sind altbekannt. Warum wird auf diese zurückgegriffen?

Ebner: Wir sehen immer wieder die gleichen Muster und Narrative, die auf aktuelle Kontexte angepasst werden. In gewisser Weise wiederholt sich die Geschichte zwar nicht, aber sie reimt sich. Selbst die Idee von QAnon, dass die globalen Eliten, oft als jüdische Eliten gesehen, das Blut von jungen Kindern trinken, um jung zu bleiben, ist ein relativ alter Verschwörungsmythos. Der Kern vieler Verschwörungsmythen ist ein Minderheitenhass,und die Verantwortung einzelner Akteure wird auf eine als homogen angesehene Gruppe projiziert. Im Nahostkonflikt wird die Verantwortung nicht mehr beim israelischen Regime und bei Benjamin Netanjahu gesehen, sondern es breitet sich auf alle Juden und Jüdinnen aus. Sie werden dämonisiert, systematisch. Dass trifft auch auf muslimische Gruppen zu, die systematisch aufgrund islamistischer oder jihadistischer Angriffe dämonisiert wurden.

STANDARD: Bei den Unibesetzungen, die von den USA nach Europa gekommen sind, haben sich die unterschiedlichsten Gruppen zusammengefunden.

Ebner: Bei diesen Protesten sind viele dabei, die zutiefst antisemitisch sind. Es sind aber auch Leute dort, die einfach für die Rechte der Menschen in Gaza eintreten wollen. Ähnlich war es auch bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. Die Gefahr ist, dass in Protestsituationen oft der Effekt der Identitätsfusion auftritt, wenn diese Gruppen sich vermischen und zusammenkommen. Wenn hier moderate Menschen mit Extremen mitlaufen, kann es zu einer starken Gruppenzugehörigkeit kommen, die dann die ideologischen Differenzen überdeckt.

STANDARD: Die Gesellschaft ist gespalten – aber gibt es wieder einen Weg zurück?

Ebner: Es ist enorm schwierig – vor allem bei der hochgradigen Polarisierung, die wir jetzt sowohl in den USA sehen als auch in großen Teilen Europas. Meine Kollegen in Oxford haben in Pilotprojekten versucht, Identitätsfusionen rückgängig zu machen – also Menschen zu defusionieren. Dabei wurden Menschen auf beiden Seiten des Gazakonflikts Bilder vom Leid auf der anderen Seite gezeigt. Da Identitätsfusion über geteilte negative Erfahrungen entsteht, wurde die Fusion mit der Eigengruppe schwächer und die Gegenseite besser verstanden. Ein Ansatz, Polarisierung zu verhindern, ist, dass man das mit anderen, zuvor als Feinde wahrgenommenen Gruppen geteilte Leid hervorhebt. (Oona Kroisleitner, 23.6.2024)