"Tooooooooooorrrrrr!!!", schallt es voller Begeisterung aus der Nachbarwohnung. Ein Moment, der bei jenen, die die Euro 2024 gerade auf Laptop oder Tablet schauen, zunächst für Verwirrung sorgt. Ist auf dem eigenen Bildschirm doch noch die exzellente schauspielerische Qualität eines sich am Boden windenden Spielers zu bewundern. Das ist zwar auch nicht schlecht, aber zumindest nach den aktuellen Regeln werden dafür noch keine Tore vergeben. Die Aufklärung erfolgt erst einige Momente später, der folgende Freistoß landet nämlich mit nicht minder beeindruckender Wucht im Tor.

Nun mag es manche geben, die das als eine Art hilfreiche Vorwarnung verstehen, damit sie wissen, wann sie auf das Spielgeschehen achten sollten. Für die meisten ist so etwas aber wohl etwas ganz anderes: ziemlich nervig. Ein Real-Life-Spoiler, der die gesamte Spannung des Spiels zerstört. Und irgendwie schmerzt es auch einfach, wenn sich das Gefühl einstellt, dass man eben nicht "live dabei" ist, sondern anderen deutlich hinterherhinkt.

Live ist relativ

Das beschriebene Problem nennt sich "Latenz". Jede Übertragung geht mit einer gewissen Verzögerung einher, je nach Verfahren oder genutztem Dienst kann diese aber massiv variieren. Gerade beim Live-Streaming über das Internet zeigt sich dieser Effekt deutlich. Wie groß das Problem wirklich ist, welche Services besonders gut oder schlecht abschneiden: All das hat sich DER STANDARD in einem ganz und gar selbstlosen Test während mehrerer Spiele der Euro 2024 einmal näher angesehen.

Euro 2024 Streaming Test
Vier Bildschirme, vier verschiedene Szenen: auch im Jahr 2024 noch immer die Realität beim Live-Streaming.
Proschofsky / STANDARD

Die für viele wichtigste Information gleich vorab: Wer möglichst nah am aktuellen Geschehen sein will, der kommt auch im Jahr 2024 nicht an klassischem Kabel- oder Satelliten-TV vorbei. Welches davon es wird, ist relativ unwichtig, heutzutage variiert das maximal um ein bis zwei Sekunden – und hängt natürlich auch vom jeweiligen Anbieter und der genutzten Hardware ab.

Kabel – und dann lange nichts

Insofern wurde Kabel-TV für die Messung auch als Basislinie verwendet, ganz konkret die aktuelle Magenta-TV-Box. Wichtig ist dabei, dass diese über das Koaxialkabel angebunden ist, sonst streamt die Box nämlich über das WLAN – und das auch hier dann erheblich langsamer. Weitere Testplattformen waren ein Chromecast mit Google TV 4K, ein Fire TV Stick 4K Max (2nd gen), ein Thinkpad X1 Gen 8 mit Chrome 126 unter Linux und ein aktuelles Macbook Pro ebenfalls mit Chrome 126. Auch ein iPhone 15 Pro Max sowie ein Pixel 8 Pro und ein Pixel Tablet wurden eingesetzt.

Dabei zeigt sich schnell die zentrale Erkenntnis des Tests: Wer die EM live streamen will, kann sich auch im Jahr 2024 eigentlich nur entscheiden, ob er eine oder doch gleich mehrere Szenen hinten nach sein will – trotz aller durchaus merklichen Bemühungen der Anbieter, die Verzögerung zu reduzieren. Selbst bei jenen Hard- und Softwarekombinationen, die im Test besonders gut abschneiden, sprechen wir immer von einer Verzögerung von mehr als zehn Sekunden. Das heißt auch: Egal wie man sich entscheidet, der eingangs erwähnte Effekt lässt sich nicht vermeiden, sondern nur minimieren. Das dafür aber zumindest deutlich.

Apps vs. Browser

Das Feld teilt sich dabei grob in zwei Kategorien: die Apps für Smartphones, Tablets und dedizierte Streaming-Plattformen auf der einen und das Streaming im Browser auf der anderen Seite. Der Unterschied ist durchaus substanziell, oder wie man auch sagen könnte: Niemand, der gerne nah am Geschehen ist, sollte die Euro 2024 im Webbrowser anschauen. Dort sind nämlich Verzögerungen von mehr als 45 Sekunden durchaus typisch – auch wenn es vereinzelte Ausnahmen gibt.

Aber im Detail: Beim über Servus TV ausgetragenen Spiel Slowenien gegen Serbien liefern die Streaming-Apps allesamt sehr ähnliche Ergebnisse. Irgendwo zwischen elf und 21 Sekunden lag die Verzögerung, das recht unabhängig von der Plattform, aber auch von den genutzten Apps. Ob Joyn oder die eigene App von Servus TV, ob Chromecast, Fire TV oder iPhone genutzt wurde, machte zumindest in diesem Fall also recht wenig Unterschied. Einmal lag die eine Plattform ein paar Sekunden vorn, einmal die andere.

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Im Chrome am Laptop zeigt sich dann schon ein etwas anderes Bild: So fällt Servus TV gleich negativ mit einer Latenz von 45 Sekunden auf. Das kommt eigentlich nicht überraschend, schon im Vorfeld war bei einer Referenzmessung im Browser auch bei ORF On, Joyn oder Magenta TV eine ähnlich große Verzögerung gegenüber dem Kabelsignal gemessen worden.

Doch wo Servus TV auch bei der EURO-Übertragung in diesem Bereich verharrt, scheint Joyn die Übertragung der EM-Spiele gezielt zu priorisieren. Hier zeigte sich zunächst nur eine Verzögerung von 16 Sekunden, bei einer zweiten Messung ein paar Minuten später waren es dann schon 30, nur um dann wieder bei 23 zu sein. Anders gesagt: Joyn lag im Test zwar immer vor Servus TV, neigt aber auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Das passt auch dazu, dass Joyn generell etwas instabiler als andere Dienste wirkt, öfter mal zu Buffering neigt – womit dann auch die Verzögerung immer größer wird.

Der ORF kommt ins Spiel

Beim zweiten Spiel handelte es sich dann um eines (England gegen Dänemark), das vom ORF ausgestrahlt wurde. Eines, das offenbar auf erheblich mehr öffentliches Interesse getroffen ist, wie sich an den Ergebnissen zeigt. Diese sind nämlich nicht nur im Schnitt auch bei den Apps eine Spur schlechter, sie sind vor allem im Verlauf des Spiels weniger stabil, die Latenz variiert also selbst auf derselben Plattform zum Teil deutlich.

Erste Wahl waren hier – nach Kabel-TV versteht sich – die ORF-On-Apps. Je nach Situation und Plattform lag die gemessene Verzögerung zwischen 14 und 28 Sekunden. Einmal waren es auf einem iPhone gar nur neun Sekunden, was allerdings ein paar Momente später durch einen Buffering-Zwischenstopp wieder verlängert wurde, also kein durchgängiges Ergebnis darstellte.

Proschofsky / STANDARD

Weniger empfehlenswert ist auch bei ORF On die Browserversion, in dieser wurden zwischen 35 und 53 Sekunden Latenz gemessen. Damit da niemand auf Ideen kommt: Die genutzte Betriebssystemplattform ändert daran wenig, die Ergebnisse von Linux und MacOS lagen durchgängig im gleichen Bereich.

Joyn lag erneut etwas besser, kam im Browser zum Teil "nur" auf 26 Sekunden Latenz. Der Wert ist allerdings erneut mit viel Vorsicht zu genießen, auch hier war Joyn wieder die Plattform mit der größten Spannbreite an Ergebnissen. So wurden etwa bei der Joyn-App am iPhone mitten im Spiel – bei mehreren Versuchen – gar 43 Sekunden Verzögerung gemessen.

Eine interessante Alternative für Browser-User war Magenta TV, bei dem die Verzögerung bei beiden Spielen auch im Browser nur irgendwo zwischen 15 und 20 Sekunden lag. Das allerdings zum Teil in verblüffend schlechter Bildqualität.

Tipps

Was bleibt sind ein paar simple Tipps: Wer die Euro 2024 streamen will, sollte nicht im Browser, sondern in einer der Apps für iPhone, Android oder Streaming-Plattformen schauen. Der Unterschied ist im Schnitt tatsächlich überraschend groß. Zudem kann es sich auszahlen, den Stream mal dazwischen neu zu starten, da die Verzögerung bei Netzwerkproblemen über die Dauer schnell mal immer größer wird. Einzelne Dienste haben dazu auch einen Button, wo man auf "Live" klicken kann.

Generell muss betont werden, dass die oben genannten Daten nur zur groben Orientierung zu verstehen sind. Das liegt daran, dass Streaming stark von der Qualität der eigenen Internetanbindung sowie des heimischen WLANs abhängt. Hier können dann noch deutlich längere Verzögerungen oder auch eine schlechtere Darstellungsqualität das Resultat sein.

4K?

Apropos Qualität: Angesichts der gemessenen Werte kann man fast schon froh sein, dass die Euro 2024 generell nur in ziemlich überschaubarer Bildqualität gestreamt wird. Mit 4K und HDR wären nämlich aufgrund der aufwendigen Berechnungen noch deutlich längere Verzögerungen zu erwarten gewesen. (Andreas Proschofsky, 22.06.2024)