"Wenn wir weiter so mit der Nagelschere Verbesserungen machen, kommen wir nicht voran." Siegfried Russwurm ist Chef des Bundesverbands der deutschen Industrie (DBI), und er sieht die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschlands in ernster Gefahr. Mit gemäßigteren Worten als Wochen zuvor der Frankfurter Börsenchef Theodor Weimer, der Deutschland in einer Wutrede als "Ramschladen" bezeichnete, der wirtschaftlich "auf dem Weg zum Entwicklungsland" sei, beschreibt auch er einen ökonomischen Abstieg des Landes: "Die Studien sprechen eine eindeutige Sprache: Wir verlieren Wettbewerbsfähigkeit und fallen im globalen Maßstab ins hintere Mittelfeld zurück", sagt Russwurm im Interview mit dem Handelsblatt. Ein Exportland wie Deutschland könne sich das nicht leisten. "Der Frust in der Wirtschaft ist deshalb groß."

Ein Blick auf die Hüttenwerke Krupp-Mannesmann in Duisburg, im Vordergrund eine begehbare Skulptur in Form einer Achterbahn.
Immer mehr hochrangige Vertreter aus Wirtschaft und Industrie äußern zunehmende Besorgnis über die künftige Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland.
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Seine Sorgen gelten fehlenden Wachstumsimpulsen nach zweijähriger Stagnation des Landes, der überbordenden Bürokratie, hohen Energiepreisen sowie der Steuerbelastung. "Wenn Unternehmen in Deutschland knapp 30 Prozent Steuern zahlen müssen, im europäischen Durchschnitt aber nur 21,3 Prozent, packt man ihnen in unserem Land ordentlich Steine in den Rucksack", sagt Russwurm. Wohl räumt er ein, dass die Ampelkoalition unter der Führung von SPD-Kanzler Olaf Scholz manche Reformen angeschoben hat, "aber ein Unternehmer schaut auf das Ergebnis. Und das Ergebnis reicht halt nicht." Viele Projekte seien schlicht zu kleinteilig.

Verloren oder Turnaround?

Die Aussagen Russwurms zeigen aber auch, wie sehr sich weite Teile der deutschen Wirtschaft und die Regierung voneinander entfernt hatten. Schon zuvor hatte Scholz im April auf die Aussage des BDI-Chefs, Deutschland habe "zwei verlorene Jahre" hinter sich, gekontert, es handle sich um "zwei Turnaround-Jahre", man möge den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht schlechtreden. "Das ist keine Schwarzmalerei, das ist das Vorzeigen der Fakten", rechtfertigte sich darauf Russwurm. "Die Industrie befindet sich in einem besorgniserregenden Abwärtstrend."

Auch andere Wirtschaftsvertreter haben unlängst in eine ähnliche Kerbe geschlagen wie Russwurm und Börsenchef Weimer. "Deutschland bleibt weit unter seinen Möglichkeiten", sagte etwa der scheidende BASF-Chef Martin Brudermüller. "Die Wirtschaft dringt mit ihren Sorgen und Rufen in der Bundesregierung nicht mehr durch." Und BMW-Chef Oliver Zipse schwänzte die jüngsten Treffen der Branchenchefs mit der Bundesregierung, da ohnedies keine Ergebnisse zu erwarten seien. Aus Sicht des Ökonomen und früheren Chefs des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn haben eine verfehlte Klimapolitik und Protektionismus zum drohenden Niedergang Deutschlands geführt.

Gespräche statt Zölle

Russwurm fürchtet, dass die EU-Zölle auf chinesische Elektroautos zu einem gegenseitigen Hochfahren von Handelsbarrieren führen, und rät zu Gesprächen mit Peking, wie man die Differenzen ausräumen könnte. Zölle seien das Letzte, was sich eine offene Volkswirtschaft wie Deutschland wünschen sollte. "Auch wenn natürlich klar ist, dass sich niemand am Nasenring durch die Manege ziehen lassen kann, wenn eine Staatswirtschaft unlautere Handelspraktiken anwendet", sagt der BDI-Präsident. Deutschland soll generell weniger abhängig von China werden, aber diesen riesigen und innovativen Markt nicht aufgeben.

"Wir können das Thema Wettbewerbsfähigkeit Europas einfach nicht mehr ignorieren", richtet er seine Botschaft auch in Richtung Brüssel. Neben dem Green Deal brauche die EU einen Industrial Deal mit unternehmerischer Freiheit, wettbewerbsfähigen Energiepreisen und weniger Regulierung. Dabei sind Klima und Wirtschaft für Russwurm keine Gegensätze: "Das müssen wir zusammenkriegen." Zu dem von Kanzler Scholz in Aussicht gestellten grünen Wirtschaftswunder meinte er: "Also den Glauben an Wunder verbinde ich mit der Kirche." Vielmehr müsse man sich bemühen, dass sich private Investitionen auch lohnen. (Alexander Hahn, 22.6.2024)