Die laufenden Gefechte im Norden Israels und im Libanon erreichen seit einigen Wochen ständig neue Eskalationsstufen.
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"Kein einziger Ort" in Israel sei sicher, sollte es zum offenen Krieg kommen, droht Hassan Nasrallah. Der Führer der proiranischen Hisbollah-Miliz hielt Mittwochabend eine öffentliche Rede, die wie erwartet mit ausschweifenden Drohgebärden gegenüber Israel gespickt war. Sollte Israel den Libanon angreifen, dann werde die Hisbollah sich an "keine Regeln und keine Grenzen" halten, sagte Nasrallah. "Die Lage im Mittelmeer würde sich von Grund auf verändern."

Dass Nasrallah Israel mit der Vernichtung droht, ist nichts Neues. Erstmals bezog der Hisbollah-Führer aber auch den Mittelmeernachbarn Zypern in seine Drohung mit ein.

"Wir haben Informationen, dass Israel Luftwaffenbasen in Zypern für Trainingszwecke nutzt", sagte Nasrallah. Sollte Zypern diesen Zugriff auch im Kriegsfall erlauben, dann werde Zypern "Teil des Kriegs sein", droht der 63-Jährige. Anlass der Rede war die Begräbnisfeier von Taleb Abdullah, einem hochrangigen Hisbollah-Kommandanten, der vor einer Woche bei einem israelischen Angriff ums Leben gekommen war.

Gelassenheit und Gefahr zugleich

In Israel wurde Nasrallahs Rede mit Gelassenheit hingenommen. Es gab kaum offizielle Reaktionen, die wichtigsten Medien tauschten die Schlagzeile gegen andere Nachrichten aus. Das ist jedoch kein Hinweis darauf, dass ein offener Kriegsausbruch hier als ausgeschlossen gilt. Militärexperten mahnen, dass die Gefahr einer solchen Eskalation so groß ist wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem 7. Oktober.

Wenn die Bewohner im Norden Israels nun wieder Wasservorräte anlegen, um sich auf einen Libanon-Krieg vorzubereiten, dann liegt das aber nicht an Nasrallahs Rabiat-Rhetorik, sondern an der Tatsache, dass die laufenden Gefechte im Norden Israels und im Libanon seit einigen Wochen ständig neue Eskalationsstufen erreichen.

Zuerst waren es Raketen, die den Norden Israels bedrängten, dann gezielte Angriffe auf Militärbasen im Norden. Im Juni kamen die von Drohnen ausgelösten Brände im Norden hinzu – und vergangene Woche dann die Nachricht, dass eine Aufklärungsdrohne der Hisbollah sich ungestört über strategischen Zielen der israelischen Streitkräfte bewegte und Videobilder in hoher Auflösung lieferte. Unter anderem gab es Videoaufnahmen der Marinebasis in Haifa und von Hafenanlagen der Stadt.

Bemühte Abschreckungsrhetorik

Dass Israels mächtigster Feind in unmittelbarer Nachbarschaft über die Fähigkeit verfügt, sich offenbar in Echtzeit ein Bild von den Kapazitäten und dem Stand der Mobilisierung in Israel zu verschaffen, verheißt nichts Gutes. Zwar versuchte Generalstabschef Herzi Halevi zu beruhigen, indem er vor Kameras betonte, Israel verfüge über deutlich mehr Kapazitäten, als seine Feinde auch nur ahnen können – und die Armee sei jedenfalls auf alle Szenarien bestens vorbereitet.

Diese Abschreckungsrhetorik der Armee greift aber nur bedingt, da Israels Regierung zugleich Signale aussendet, die den iranischen Proxys in der Region nur gefallen können: So sorgte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zuletzt mit einer Videobotschaft für Aufsehen, in der er die USA dafür kritisierte, dass sie wichtige Rüstungslieferungen an Israel zurückhalten und damit Israels Wehrhaftigkeit einschränken würden. Das erzürnte nicht nur Washington, wo man darauf hinwies, dass – bis auf eine Ausnahme – alle Lieferungen wie angekündigt stattgefunden haben. Es war auch ein Signal an die Region, dass die robuste Bündnispartnerschaft doch nicht so stark sein könnte wie angenommen.

Dazu kommt der nun auch völlig offen ausgetragene Streit zwischen Regierung und Armee in Israel. In einer nie dagewesenen Unverblümtheit, die viele in Israel verblüffte, stellte sich Armeesprecher Daniel Hagari am Mittwoch vor Kameras und sagte, wer den Menschen in Israel den absoluten Sieg über die Hamas verspreche, der streue ihnen Sand in die Augen. Es war klar, an wen diese Kritik gerichtet war: Netanjahu, der auch nach acht Monaten Gazakrieg ohne Aussicht auf ein Ende immer noch den vollständigen Sieg über die Terrorgruppe in Gaza verspricht. Hagari erklärte dies für unrealistisch und sprach sich für einen Deal zur Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas aus. Auch das ist als implizite Kritik an der Regierung zu verstehen, die es seit November nicht geschafft hat, einen Nachfolge-Deal zum ersten Übereinkommen mit der Hamas auszuhandeln.

Die Forderung nach einer Verhandlungslösung für Geiseln und Waffenstillstand ist wohl auch im Hinblick auf die eskalierende Lage im Libanon gerichtet: Die Hisbollah hat ihre eigene Aggression an die Lage in Gaza geknüpft. Sollte es dort zu einer Waffenruhe kommen, dann wird es laut israelischen Militärexperten auch im Norden Israels zu einer Beruhigung kommen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 20.6.2024)