Vier Jahre und neun Monate hat Karl Nehammer gebraucht, um das wahre Gesicht der Grünen zu erkennen. Seiner Menschenkenntnis und seinem politischen Einschätzungsvermögen stellt das nicht das beste Zeugnis aus, zumal die Maske, die sich die Grünen von ihrem Gesicht gerissen haben, nichts anderes verborgen hat als die Tatsache, dass sie grün sind und ihr politisches Alleinstellungsmerkmal nun einmal der Klimaschutz ist.

Das Renaturierungsgesetz ist nicht erst vor zwei Wochen in Österreichs Innenpolitik aufgeschlagen, es war Zeit genug, wenigstens eine Ahnung darauf zu verschwenden, wie sich Werner Kogler, Leonore Gewessler und Co, die vor dem 29. September genau so zittern wie die ÖVP, verhalten und ob sie sich das Geschenk einer solchen klimapolitischen Profilierungschance entgehen lassen würden. Wohl kaum, wenn sie sich darauf verlassen können, dass sie mit ihrem Ja zum Renaturierungsgesetz eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben.

Bundeskanzler Karl Nehammer steht hinter einem Pult bei einer Pressekonferenz.
Hält noch an der Koalition fest: Kanzler Karl Nehammer (ÖVP).
Foto: APA / BKA / Andy Wenzel

Ein österreichischer Bundeskanzler hat keine Richtlinienkompetenz, er kann den Ministerinnen/Ministern seines Kabinetts nichts anschaffen, sie sind selber verantwortlich für ihr Tun. Sollte sich Nehammer auf so etwas verlassen haben wie seine natürliche oder funktionale Autorität, liegt schon wieder eine Fehleinschätzung vor. Die hat ihre Wurzeln in der Annahme, die gottgewollte Einsetzung des ÖVP-Bauernbundes zum Alleinbevollmächtigten über Österreichs Wald und Flur müsste auch grüne Agraratheisten zum Schweigen bringen, mögen die Argumente seiner Vertreter noch so falsch oder an den Haaren herbeigezogen sein.

Aus Angst geboren

Da wurde nicht viel mit Fakten gefackelt, sondern gleich mit der biblischen Plage eines Versorgungsnotstandes gedroht, hinter dem sich freilich nichts anderes verbirgt als ein Argumentationsnotstand, geboren aus der Angst, politischen Einfluss an Instanzen zu verlieren, die umweltpolitisches Verantwortungsbewusstsein nicht völlig ökonomischem Eigeninteresse preisgeben. Ohnehin schonend, aber wo es ums Prinzip geht, schreckt man vor nichts zurück. So berief sich der Präsident des Bauernbundes im ORF sogar überparteilich auf die agrarischen Autoritäten Hans Peter Doskozil und Georg Dornauer, in der Annahme, wenn die schon der SPÖ schaden, wird es gegen die Grünen auch wirken. (Dass sich der Dodo vor dreihundert Jahren aus der Naturgeschichte abgemeldet hat wie der Do aus der Bundespolitik, dürfte er übersehen haben.)

Nachdem ÖVP-Chef Nehammer in seiner Verantwortung für den Bauernbund gescheitert ist, will er als Bundeskanzler wenigstens aus der Verantwortung für den Fortbestand der Koalition nicht flüchten. Umflort von Drohungen mit Minister-, Nichtigkeits- und sonstigen Klagen, will er das Beste aus zwei Welten "geordnet", aber doch auf körperlicher Distanz bis zum Wahltag prolongieren, was einer Quadratur des Kreises nahekommt, zumal die Grünen jetzt noch weniger Grund haben, ihr wahres Gesicht zu verbergen. Schon wachelt Kogler mit dem Sideletter, in dem der ÖVP das Vorschlagsrecht für einen EU-Kommissar eingeräumt wird.

Dass Nehammer eigenes Versagen kompensieren will, indem er beim Europäischen Gerichtshof gegen seine Ministerin sudern lässt, ist eine nationale Peinlichkeit. In anständigen Familien macht man das unter sich aus. (Günter Traxler, 21.6.2024)