Kanzler Karl Nehammer und Ministeirn Leonore Gewessler bei einer Pressekonferenz.
Nehammer wollte Gewessler zurückpfeifen. Deutsche Europarechtler erachten den Versuch als misslungen.
IMAGO/Martin Juen

Durfte Leonore Gewessler (Grüne) als Klimaministerin gegen den Willen des Kanzlers im EU-Rat für das Renaturierungsgesetz abstimmen? Unter österreichischen Juristinnen und Juristen ist über diese Frage eine intensive Debatte ausgebrochen. Die einen sehen Gewessler als zuständige Ministerin befugt; die anderen argumentieren, dass sie Einvernehmen mit weiteren betroffenen Ministern und den Bundesländern hätte herstellen müssen.

Doch unabhängig davon, wer recht hat – am gültigen Ratsbeschluss auf EU-Ebene wird sich aller Voraussicht nach nichts mehr ändern. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat zwar eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) angekündigt; politische oder rechtliche Streitigkeiten auf nationaler Ebene können die Gültigkeit von Ratsbeschlüssen aber grundsätzlich nicht beeinflussen, erklären deutsche Europarechtsexperten dem STANDARD.

Nehammers Brief

Zur Erinnerung: Nehammer hatte sich noch am Tag der Abstimmung mit einem Brief an den belgischen Ratsvorsitz gewandt und erklärt, dass Gewessler beim Renaturierungsgesetz nicht für Österreich abstimmen dürfe.

Matthias Ruffert, Professor für Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, hält diesen Brief für rechtlich nicht relevant. "Man kann nicht sagen, dass eine Ministerin zwar für Österreich an der Ratssitzung teilnimmt, aber nicht befugt ist, auf eine bestimmte Art und Weise abzustimmen", sagt Ruffert. "Entweder man ist Ministerin oder nicht. Und die Ressortministerin eines Mitgliedstaates ist natürlich befugt, für die Republik Österreich zu sprechen. Sonst würde der Rat nicht funktionieren."

Was Ruffert sehr wohl für denkbar hält, wäre, dass einer Ministerin schon im Vorfeld der Ratssitzung ganz generell die Befugnis entzogen wird, für die Republik zu sprechen – zum Beispiel, weil sie nach österreichischem Verfassungsrecht abgesetzt wurde. Im aktuellen Fall war das anders: Nehammer schrieb in dem Brief, dass Gewessler "in this regard" – also in dieser einzelnen, bestimmten Angelegenheit – nicht zustimmen dürfe. "Das bekommt man jetzt nicht mehr gerettet", ist Ruffert überzeugt.

Nehammer: "Ministerin hat Rechtsbruch begangen"
APA

Genauso in Deutschland

Sehr ähnlich sieht das Frank Schorkopf, Professor für EU-Recht an der Universität Göttingen. EU-Staaten werden im Rat durch bevollmächtigte Minister vertreten. Das bedeutet aber nur, dass eine formale Zuständigkeit gegeben sein muss. Ob ein Minister politisch oder nach dem Recht seines Heimatstaats aus zustimmen darf, ist nicht entscheidend.

In Deutschland wäre die Situation übrigens genauso, erklärt Schorkopf. Im Gegensatz zum österreichischen Bundeskanzler hat der deutsche Bundeskanzler zwar innerhalb der Regierung eine "Richtlinienkompetenz" – also eine Art übergeordnetes Weisungsrecht. Dennoch wäre es für die formale Gültigkeit der Abstimmung im EU-Rat unerheblich, wenn der Bundeskanzler seinen Ministern Anweisungen gibt.

Rein theoretisch könnten formale Fehler bei der Abstimmung im Rat dazu führen, dass ein Rechtsakt für nichtig erklärt wird. Der Vorsitz muss sich vor einer Abstimmung etwa vergewissern, dass der Rat beschlussfähig ist. Damit ist gemeint, dass die Mehrheit der stimmberechtigten Ratsmitglieder anwesend ist. Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass bei der Abstimmung derartige Formalfehler passiert sind.

Letztlich läge die Entscheidung freilich beim EuGH. Eine Nichtigkeitsklage müsste innerhalb von zwei Monaten nach dem Gesetzesbeschluss eingebracht werden, erklärt Ruffert. "Der Europäische Gerichtshof braucht für eine Entscheidung in derartigen Angelegenheiten ein oder zwei Jahre, eher zwei." (Jakob Pflügl, 20.6.2024)