Eine Fußball-EM ist nicht nur für Österreichs Nationalteam, sondern auch für den Ausrichter eine Riesenherausforderung. Millionen Fans besuchen 51 Spiele in Städten, die derartige Touristenmassen nicht gewohnt sind. Da kann viel schiefgehen. Und die Erfahrung zeigt: Das tut es – zum Beispiel, wenn man pünktlich von A nach B kommen will. Die mäßig funktionierende Infrastruktur erwischt viele Besucher auf dem falschen Fuß. STANDARD-Sportredakteur Martin Schauhuber ist seit dem Eröffnungsspiel vor Ort, STANDARD-Korrespondentin Birgit Baumann schon ihr halbes Leben. Also hofft Ersterer, dass Zweitere die Probleme erklären kann.

Schauhuber: Die deutsche Nationalmannschaft könnte Europameister werden, und trotzdem wäre Deutschland die Enttäuschung dieser EM. Immer wieder treffe ich in den Austragungsstädten entgeisterte Fans, die das Land in einem deutlich besseren Zustand erwartet hätten: Deutschland ist ein riesiges Funkloch, manche Austragungsstädte (Dortmund! Gelsenkirchen!) erschrecken in ihrer Abgewracktheit sogar Engländer, und die Deutsche Bahn ist ein eigenes Lexikon des Scheiterns. Was ist da los?

Baumann: Aja. das mit dem Funkloch fällt dann doch auf. Wir haben uns ja schon einigermaßen arrangiert. In den großen Städten geht es ja noch ganz gut, aber auf dem Land ist es oft schwierig. Wenn man in ländliche Gebiete fährt, kann man sich aber vorher auf einer digitalen Karte der Bundesnetzagentur informieren. Da sind zwei Prozent weiße und 15 Prozent graue Flecken eingezeichnet. Grau heißt so viel wie: schlecht. Und weiß: ganz schlecht. Die Bundesregierung schiebt den großen Netzbetreibern den – um bei den Farben zu bleiben – schwarzen Peter zu. Aber die sagen: Wir sind nicht säumig, sondern haben ausgebaut. Dennoch: Die Bundesnetzagentur hat jetzt Bußgeldverfahren gegen die drei Platzhirsche Deutsche Telekom, Telefónica (O2) und Vodafone eingeleitet, damit endlich auch dünnbesiedelte Regionen ans Netz angeschlossen werden. Aber in Dortmund und Gelsenkirchen solle es eigentlich Empfang geben.

Raffinerie hinter Häusern.
Gelsenkirchen gehört zum Ruhrpott.
AP/Martin Meissner

Schauhuber: Vielleicht sind ja innerstädtisch auch nur Bahnstrecken vom Empfang ausgenommen, gestern war das Internet nicht einmal auf den letzten Metern zum Kölner Hauptbahnhof zu erreichen. Aber wenn du schon Dortmund und Gelsenkirchen erwähnst – ohne einer historisch wichtigen Kulturregion zu nahe treten zu wollen: Schön geht anders.

Baumann: Dortmund und Gelsenkirchen sind Pott – was natürlich eine sehr verkürzte Erklärung ist. Etwas ausführlicher: Der Ruhrpott gehört zu jenen Regionen in Deutschland, die einen krassen Strukturwandel hinter sich haben. Als 2018 in Bottrop mit der Zeche Prosper Haniel das letzte Steinkohlebergwerk geschlossen wurde, ging eine Ära zu Ende. Jahrzehntelang haben der Bergbau, die Kohle, der Ruß und der Stahl die Region geprägt und wirtschaftlich nach oben gebracht. Doch die noch nicht abgeschlossene Transformation zum Zentrum für Wissenschaft und grünen Technologien hat sich auch in der Arbeitslosenstatistik bemerkbar gemacht. Die Arbeitslosenquote ist dort mit rund zehn Prozent höher als im bundesdeutschen Schnitt (5,8 Prozent), in Gelsenkirchen liegt sie bei mehr als 14 Prozent. Die Stadt zählt zu den ärmsten Deutschlands, da ist nicht viel Geld zur Behübschung da. Viele im Pott stört das aber gar nicht so sie so, sie haben das Raue und Kaputte längst zum "Ruhrpott-Charme" erklärt.

Schauhuber: Die Romantik ums "Malochen", der harten Arbeit unter Tage, kennt man als Sportredakteur dank Schalke 04 recht gut. Der Weg vom Malochen zum Moloch ist offenbar nicht weit. Gelsenkirchen hat auch das bisher größte organisatorische Debakel der EM geliefert, viele Fans warteten nach Englands 1:0 gegen Serbien über zwei Stunden auf die in Zeitlupe eintröpfelnden Straßenbahnen. Wie gibt's das? Fahren deutsche Fußballfans nur Auto? Schalke lockt jedes zweite Wochenende über 60.000 Leute ins Stadion, die Öffis können da ja nicht immer so überfordert sein.

Baumann: Man muss das Positive sehen. Immerhin blieben serbische und englische Fans friedlich, das ist doch was. Möglicherweise allerdings, weil sie von dem Chaos total überrascht waren. Vielleicht wollten die Verantwortlichen ihnen auch noch etwas Freiluft-Party ermöglichen. Die Polizei hat zwar eingeräumt, dass es teilweise zu "deutlichen Rückstauungen" gekommen ist. Aber der Leiter des Krisenstabes der Stadt Gelsenkirchen, Luidger Wolterhoff, wird in der WAZ mit den Worten zitiert: "Das Verkehrskonzept hat funktioniert. Wir hatten zu jedem Zeitpunkt genügend Straßenbahnen und Busse im Einsatz. Die individuelle und die objektive Betrachtung decken sich halt nur nicht immer." So klingt deutscher Pragmatismus. Bei Schalke-Spielen reisen weniger Fans mit dem ÖNPV an, das Ruhrgebiet hat ja ein sehr dichtes Netz an Autobahnen. Manche sagen, es sei überhaupt ein einziger Autobahnknoten.

Gedränge vor Zug.
Die Anreise (hier im Bild) zum Spiel England – Serbien war schlimm, die Rückreise schlimmer.
AP/Markus Schreiber

Schauhuber: Als jemand, der in der Schlange Kinder am Rande des Kollaps gesehen hat, fühle ich mich an das Tiroler "Alles richtig gemacht" der frühen Corona-Zeit erinnert. Das i-Tüpferl auf das Rückfahrtsdebakel war dann das absolute Chaos am Hauptbahnhof Gelsenkirchen. All jene mit ein paar Tagen Deutschlanderfahrung hat es nicht mehr überrascht: Die Züge kommen entweder gar nicht, sind verspätet oder fahren doch woanders hin. Ist das mit der Deutschen Bahn immer so schlimm?

Baumann: Die Deutsche Bahn ... Man könnte damit Bücher aus der Abteilung Horror füllen. Klar, die bewegt schon viele Menschen von A nach B. 131 Millionen Menschen nutzen die Bahn jährlich im Fernverkehr, im Nahverkehr sind es 2,4 Milliarden. Aber es wurde viel zu wenig investiert in den vergangenen Jahren. Das Hauptproblem: Auf einem veralteten Netz fahren immer mehr Züge. Dazu kommt großer Personalmangel. Ich selbst bin absolute Optimistin und habe sogar eine Bahncard 100, da ich sehr viel mit dem Zug reise. Man baut automatisch Sicherheitspuffer ein und weiß genau, wo die größten Funklöcher sind (rund um Berlin, im Osten). Zudem kenne ich jede Ausrede, warum der Zug wieder einmal nicht pünktlich ist. Sehr beliebt: "Das Team steckt noch in einem verspäteten anderen Zug fest." Es gibt aber auch richtige Glückstage: Da erwischt man einen Zug, der nicht total überfüllt und pünktlich ist, in dem Bistro und Toilette funktionieren. Ein absolutes Highlight.

Schauhuber: Deutschland ist doch eine Wirtschaftsmacht. Wo ging bisher das ganze Geld hin, wenn nicht in Infrastruktur? Werden mit deinem Steuergeld einfach nur Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung gebaut?

Baumann: Das sind die geheimen Träume mancher FDP-Leute. Freie Fahrt für freie Bürger auf freien Autobahnen – mit dem Porsche. Natürlich wird auch dort investiert beziehungsweise saniert, das muss ja auch sein. Deutschland lässt sich seinen Sozialstaat einiges kosten. Der Löwenanteil (fast 37 Prozent) des Bundeshaushalts fließt in den Bereich Pensionen/Sozialhilfe. Weit dahinter, mit knapp elf Prozent, folgen die Ausgaben für Verteidigung. Derzeit erstellt die Ampelkoalition gerade den Haushalt für 2025, da sind tatsächlich Kürzungen für den Bereich Autobahn vorgesehen. Dann müssen die Menschen halt mehr Bahn fahren, womit wir wieder beim obigen Problem sind.

Züge vor Brücke.
Gleisanlage vor dem Kölner Hauptbahnhof.
IMAGO/Jochen Tack

Schauhuber: Ich will ja nicht nur schimpfen. Mich überraschen die enorm freundlichen Volunteers, Sicherheitskräfte, bisweilen sogar Polizisten. Unterschätzt man, wie gastfreundlich Deutsche sind, oder ist das ein einmaliges Herausputzen?

Baumann: Nein, das ist keine Eintagsfliege. Viele Deutsche sind enorm hilfsbereit und gastfreundlich, engagieren sich auch ehrenamtlich und helfen Geflüchteten. Privater Einsatz kompensiert viel staatliches Defizit, etwa wenn Eltern freiwillig heruntergekommene Klassenzimmer ausmalen. Und vor allem in Berlin ist die Polizei sehr locker und freundlich. (Martin Schauhuber, Birgit Baumann, 23.6.2024)