Quizfrage: Was ist aus Sicht der ÖVP noch schlimmer als Klimaministerin Leonore Gewessler? Richtige Antwort: das freie Spiel der Kräfte im Nationalrat. Kanzler Karl Nehammer trat am Montag vor die Presse, um der grünen Ministerin einen "schweren Vertrauensbruch" und ein "krasses Fehlverhalten" wegen ihres Abstimmungsverhaltens bei der EU-Renaturierungsverordnung zu attestieren. Die Koalition aufkündigen wollte Nehammer aber nicht. Das freie Spiel der Kräfte, also der Beschluss von Gesetzen im koalitionsfreien Raum, habe die Steuerzahler in der Vergangenheit Milliarden gekostet. Dieses Chaos werde er nicht erneut zulassen.

Die Kosten vergangener Beschlüsse sind tatsächlich hoch: Laut einer Rechnung des Fiskalrats belaufen sie sich heuer auf 4,1 Milliarden Euro. Das entspricht einem Prozent der Wirtschaftsleistung oder den jährlichen Kosten für Polizei und den Bereich Innere Sicherheit. Analysiert wurden für diese Rechnung alle Nationalratsbeschlüsse seit 2008, für die es keine Regierungsvereinbarung gab und die kurz vor einer Wahl getroffen wurden. Meist beschließen die Parteien im koalitionsfreien Raum dauerhaft wirksame Entlastungen und Wahlzuckerln, daher der hohe Betrag, der bis heute fortwirkt.

Die ÖVP weiß, dass sie das Kommando im freien Spiel der Kräfte aus der Hand gibt.
AP/Jordan Pettitt

Die Abneigung der Volkspartei hat aber nicht nur mit Kosten zu tun. Die ÖVP sitzt seit 1987 kontinuierlich in der Regierung. In den vergangenen 37 Jahren bestand also die einzige Gefahr, bei Gesetzesvorhaben überstimmt zu werden, im freien Spiel der Kräfte. Und überstimmt wurde die ÖVP zu ihrem Leidwesen und zum Leidwesen ihrer Klientel, also etwa Touristikern oder Immobilienwirtschaft, immer wieder.

Aus für die Anrechnung des Partnereinkommens bei Notstandshilfe

Zu den wirtschaftspolitisch weitreichendsten Beschlüssen zählte ein Gesetz aus dem Herbst 2017, mit der die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten bei Kündigungsfristen beendet wurde. Während Angestellte mindestens eine sechswöchige Kündigungsfrist haben und die Trennung überhaupt nur an bestimmten Tagen ausgesprochen werden kann, gab es bei Arbeitern deutlich kürzere Fristen. Bei Friseuren und im Tourismus zwei Wochen, am Bau fünf Tage. Mit den Stimmen von SPÖ, Grünen und FPÖ wurden die Fristen angeglichen. Im selben Jahr wurden gegen den Willen der ÖVP die Gebühren bei Mietverträgen abgeschafft. Ebenfalls 2017 wurde die Anrechnung des Partnereinkommens bei der Notstandshilfe abgeschafft.

Im Jahr 2019 setzten SPÖ, FPÖ und die Liste Jetzt einen Rechtsanspruch auf eine einmonatige Arbeitsfreistellung nach der Geburt eines Kindes fest. Dieselben Parteien legten damals auch eine Höchstgrenze für Parteispenden fest. Die Liste der Gesetze ohne ÖVP-Beteiligung lässt sich noch verlängern: Im September 2008 wurden ebenfalls mit den Stimmen von SPÖ, Grünen und FPÖ im koalitionsfreien Raum die Studiengebühren wieder abgeschafft.

Wobei das nicht heißt, dass die ÖVP bei vielen finanziell weitreichenden Beschlüssen nicht selbst zugestimmt hätte, etwa bei außerordentlichen Pensionserhöhungen oder einer Valorisierung des Pflegegeldes. Interessanterweise kommt das gewerkschaftsnahe Momentum-Institut in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass bei der überwiegenden Zahl der Maßnahmen im koalitionsfreien Raum Menschen mit mittleren oder niedrigen Einkommen profitieren. Es ist eher eine Überschlagsrechnung. Studierende zählen für Momentum etwa zu den Geringverdienern. Ausgerechnet wurde nur, wer primär profitiert hat von welchem Beschluss. Aber die Tendenz ist unverkennbar. Das freie Spiel der Kräfte sei unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten jedenfalls besser als ihr Ruf, so Momentum.

Richtig ist jedenfalls, dass die Wählerinnen und Wähler jedes Mal kurz nach dem Beschluss-Reigen ohne koalitionärem Korsett im Nationalrat am Wort waren - und somit selbst entscheiden konnten, was sie von der ganzen Sache halten. (András Szigetvari, 19.6.2024)