Szene aus einer Mittelschule in Wien
Paradoxer Befund für heimische Schulen: Österreich hat die Bildungsausgaben stark gesteigert – doch gewachsen sind auch die Probleme.
Heribert Corn

Es sei an der Zeit, laut um Hilfe zu rufen, sagt Bettina El-Ansari-Girakhoo. Als Direktorin der Volksschule "Kunterbunt" im Wiener Bezirk Hernals bekommt sie laufend neue Schülerinnen und Schüler zugewiesen, die im Zuge der Familienzusammenführung zu ihren nach Wien geflüchteten Eltern kommen. Deutsch können die Kinder naturgemäß nicht, manche müssen erst Lesen und Schreiben lernen. Dringend brauche ihre Schule Deutschförderlehrer, Dolmetscher und Pädagogen mit Erstsprache Arabisch, doch der Personalstand sei bis dato der gleiche geblieben wie im Herbst festgesetzt: "Wir können das nicht mehr stemmen."

Die Schulleiterin ist eine von 59 Stimmen, die in einem neuen Forschungsbericht mit dem Titel "Brennpunkt Schule?" zu Wort kommen. In neun auf ganz Österreich verstreuten Pflichtschulen ließ die von Industriebetrieben finanzierte Mega-Bildungsstiftung sogenannte Fokusgruppengesprächen mit Pädagoginnen und Pädagogen führen. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, legen aber ein breites Spektrum an Sorgen und Problemen offen.

"Wenn man das Lehrerzimmer anschaut, ist das wie Hühnerhaltung in einer Legebatterie."

Fehlende Ressourcen: Personalmangel beschränkt sich laut der Bestandsaufnahme nicht nur auf die Frage der Sprachförderung. Groß ist etwa der Wunsch nach administrativen Kräften, um sich stärker der eigentlichen Aufgabe widmen zu können. "Ich habe manchmal das Gefühl, ich habe zwei Berufe – ich bin Sekretärin und Lehrerin", so eine Klage. Generell sei es unmöglich, Schülerinnen und Schüler individuell ausreichend zu fördern – dafür seien die Klassen wegen des Lehrermangels einfach zu groß.

Schlecht stehe es auch um das Angebot an modern ausgestatteten Lern-, Freizeit- oder Rückzugsräumen. "Wenn man das Lehrerzimmer anschaut, ist das wie Hühnerhaltung in einer Legebatterie", gab eine Befragte zu Protokoll. Eine andere Schilderung: "Bei einem Bio-Ei muss das Hendl einen gewissen Auslauf haben, unsere Schülerinnen und Schüler haben das nicht."

"Wir können immer nur die allerschwierigsten Fälle bearbeiten. Alle anderen gehen unter."

Psychische Krisen: Panikattacken, Entwicklungsstörungen, Schulangst, ADHS: "Es gibt immer mehr Kinder mit psychischen und emotionalen Problemen", stellt El-Ansari-Girakhoo stellvertretend für andere Pädagoginnen fest. Wieder fokussiert die Kritik auf den Personalmangel. Laut sei der Ruf nach "multiprofessionellen Teams" aus Sozialarbeitern, Psychologen oder Alltagshelfern an den Schulen, heißt es im Bericht. "Wir können immer nur die allerschwierigsten Fälle bearbeiten", sagt El-Ansari-Girakhoo, "alle anderen gehen unter."

Eine Folge: Viele Lehrpersonen fühlten sich machtlos und überfordert, weil sie für solche Fälle nicht ausgebildet seien – und gerieten ihrerseits in psychische Nöte. "Wir stellen uns hinten an, kommen aber selbst an unsere Grenzen", erzählt eine Betroffene.

Handy-Manie: Emporgestiegen sei die "Emotionskurve" in den Diskussionen beim Thema Smartphone-Konsum, berichtet Mega-Generalsekretär Andreas Ambros-Lechner. "Denkmüde" mache die "Always-on-Mentalität" die Schülerinnen und Schüler, so ein Befund: "So viel prasselt auf einen ein, das Gehirn kommt nicht zur Ruhe." Doch wie damit umgehen? Einige der besuchten Schulen haben bereits Handyverbote ausgesprochen, die Kinder müssen ihre Geräte jeden Morgen in eigene Spinde sperren. Andere suchen nach Kompromissen, um die Nutzung auch sinnvoll in den Unterricht einzubauen.

Kein legitimer Weg ist aus Lehrersicht, dass Eltern die Aufgabe der Medienerziehung auf die Schulen abschieben: "Viele geben ihren Kindern uneingeschränkten Zugang zum Internet und kümmern sich nicht weiter darum."

"Sie kriegen keine Erziehung und Bildung mit von daheim, sondern viel Aggression, Alkoholismus und Drogenkonsum."

Ungleiche Chancen: Auch an einem ewigen Thema der Bildungsdebatte kamen die Befragten nicht vorbei. Dass Schulerfolg hierzulande stark von Elternhaus und Migrationshintergrund abhängt, erklären die Schulkräfte nicht nur mit Mangel an individueller Förderung. Entscheidend sei, Eltern stärker in den Schulalltag einzubinden – über den Elternsprechtag und das Mitteilungsheft hinaus.

Angefressen sei so manche Lehrkraft wegen des fehlenden Engagements der Erziehungsberechtigten, sagt Ambros-Lechner: In zwei städtischen Mittelschulen sei zu hören gewesen, dass zu mehr als der Hälfte der Eltern kein Kontakt bestehe. "Sie kriegen keine Erziehung und Bildung mit von daheim, sondern viel Aggression, Alkoholismus und Drogenkonsum", so ein Statement. "Die Schule ist oftmals der sicherste Platz, den sie kennen."

Schlechtes Image: Schmerzlich vermisst wird in den Schulen auch Wertschätzung gegenüber der eigenen Arbeit. "Wir kompensieren gesellschaftliches und elterliches Versagen", betont eine Stimme. Doch in der Öffentlichkeit bleibe übrig, dass Lehrerinnen und Lehrer im Sommer neun Wochen freihätten.

Einen "Weckruf" erhofft sich Ambros-Lechner vom Problemaufriss, auf dass die Politik die nötigen Reformen einleite und Licht in ein Mysterium bringe. Laut Statistik Austria sei das Bildungsbudget in den letzten 22 Jahren inflationsbereinigt um 36 Prozent gestiegen, rechnet der Stiftungsvertreter vor: "Irgendetwas stimmt im System nicht, wenn so viel Geld nicht ausreichend bei den Kindern ankommt." (Gerald John, 19.6.2024)