Bundeskanzler Karl Nehammer und seine ÖVP schäumen: Einen eindeutigen "Rechtsbruch" habe die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler am Montag durch ihre Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz in Luxemburg begangen – das sei nichts weniger als eine "Gefahr für den Rechtsstaat". Das grüne Regierungsteam entgegnet: Jeder Schritt sei sorgsam überlegt gewesen, Gewessler habe mit ihrem Ja rechtskonform gehandelt.

Beide Seiten berufen sich für ihre Sicht auf Kronzeugen aus der juristischen Fachwelt, die in den vergangenen Wochen viel Tinte in der Causa verbraucht hat. Doch was sind überhaupt die entscheidenden Punkte in der rechtlichen Diskussion, und wie kam es zur Schlacht der Gutachten, die die Regierung ausgelöst hat? Der STANDARD hat Fragen und Antworten zu der Causa gesammelt.

Klimaministerin Leonore Gewessler ließ sich ihr Abstimmungsverhalten im Rat mit mehreren Gutachten absichern.
APA/GEORG HOCHMUTH

Frage: Kanzler Nehammer empörte sich am Montag darüber, dass sich Gewessler über die Expertise des Verfassungsdiensts hinweggesetzt hat, die aus seiner Sicht unumstößlich sei. Was heißt das?

Antwort: Der Verfassungsdienst ist im Bundeskanzleramt angesiedelt, das Nehammer anführt. Das ist eine für die Republik gewichtige und kenntnisreiche Institution, die dafür da ist, die Regierung in Rechtsfragen zu beraten und auch bei Höchstgerichten zu vertreten. Das hat ÖVP-Vertreter in der Vergangenheit aber mitunter nicht davon abgehalten, Empfehlungen des Dienstes in den Wind zu schlagen.

Frage: Stützt der Verfassungsdienst in der aktuellen Causa die Sicht der ÖVP?

Antwort: Obwohl das vierseitige Papier bereits seit der Fertigstellung am 24. Mai im polit-medialen Diskurs zitiert wurde, war es zunächst für die allgemeine Öffentlichkeit nicht zugänglich – was die Diskussion zunächst erschwerte. Am Dienstag wurde es dann auf der Webseite des Kanzleramts publiziert. Tatsächlich argumentierte der Verfassungsdienst in dem Papier, dass Gewessler im EU-Umweltministerrat dem Renaturierungsgesetz nicht zustimmen durfte, weil die ablehnende Position sowohl der Länder als auch der ÖVP-Ministerien ihr das nicht erlaubte.

Frage: Was halten die Grünen dem entgegen?

Antwort: Das Umweltministerium hat im Laufe der vergangenen Monate zu diversen rechtlichen Aspekten vier externe Gutachten beauftragt, die am Montag veröffentlicht wurden. Sie stammen vom Boku-Professor Daniel Ennöckl, der Anwaltskanzlei Lansky, Ganzger, Goeth, dem emeritierten Staatsrechtler Karl Weber und dem Rechtsanwalt Florian Stangl. Wie zu erwarten war, stützen diese Gutachten Gewesslers Vorgehen.

Frage: War's das jetzt mit Regierungsgutachten zur EU-Renaturierung?

Antwort: Nein. Obgleich Nehammer am Montag gegen die grünen "Privatgutachten" polemisiert hat, wurde vom türkisen Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig ebenso ein externes Rechtsgutachten veröffentlicht, das aus der Feder des Grazer Verfassungsjuristen Christoph Bezemek stammt. Demnach hätte Gewessler für ihr EU-Abstimmungsverhalten mit Totschnig eine Einigung herstellen müssen, was sie bekanntlich nicht tat.

Frage: Wie viel Steuergeld haben die im Koalitionsstreit verwendeten rechtlichen Abhandlungen gekostet?

Antwort: Totschnigs Ministerium konnte auf Anfrage keine Zahl liefern, weil noch keine Abrechnung vorliege. Das Umweltministerium teilte dem STANDARD am Dienstag mit, das Auftragsvolumen für die vier Gutachten betrage ingesamt rund 37.000 Euro – betonte aber ebenfalls, dass die finale Abrechnung noch ausständig sei.

Frage: Ein besonders heikler rechtlicher Punkt betrifft das Zusammenspiel von Gewessler und den Bundesländern. Worum geht es da?

Antwort: Die österreichische Verfassung sieht vor, dass eine Ministerin in der EU so abstimmen muss, wie die Länder das wollen, sofern ein EU-Rechtsakt Bereiche betrifft, für die sie auf nationaler Ebene zuständig sind. Im Anlassfall ist das der Naturschutz, der in Österreich Ländersache ist. Das formelle Instrument, mit dem die Länder eine Ministerin auf ihre Position verpflichten können, heißt "einheitliche Länderstellungnahme". Verzwickt ist die jetzige Situation vor allem deshalb, weil die roten Bundesländer Wien und Kärnten im Mai einen Meinungsschwenk vollzogen haben und die mit den restlichen Bundesländern 2022 und 2023 paktierten Kontra-Stellungnahmen zur Renaturierung nicht mehr aufrechterhalten wollten.

Frage: Aber folgt aus dem Meinungsschwenk mancher Länder, dass Gewessler sich um die alte Länderstellungnahme rechtlich nicht mehr scheren musste?

Antwort: Vorausschicken muss man, dass die formalen Regelungen zu Länderstellungnahmen einigermaßen lückenhaft sind, sodass eine Auslegung nicht ganz leicht ist. Für den Verfassungsdienst steht aber jedenfalls fest, dass "einseitigen Erklärungen einzelner Länder keinesfalls eine rechtliche Relevanz zukommen kann". Vielmehr hätte es eine neue einheitliche Länderstellungnahme gebraucht, um die alte ungültig zu machen. Eine neue kam aber trotz Wiener Bemühungen nicht zustande, somit wäre Gewessler am Montag weiterhin an das Nein der Länder gebunden gewesen.

Frage: Wie kontern die von Gewessler beauftragten Gutachten?

Antwort: Interessanterweise mit teilweise sehr unterschiedlichen Begründungen. Anwalt Stangl argumentiert etwa, dass die alten Länderstellungnahmen für Gewessler von vornherein nicht bindend waren, weil sie nicht von der sogenannten Integrationskonferenz der Länder beschlossen wurden, die als Gremium allein für derartige Beschlüsse zuständig sei. Professor Weber verweist darauf, dass es eine Ausnahmeregelung gibt, unter der Gewessler in der EU sehr wohl von einer Länderstellungnahme abweichen durfte – und zwar "zwingende integrations- und außenpolitische Gründe". Da man diesen Passus weit fassen könne, könne auch die EU-Renaturierung solch einen Grund darstellen, zumal sie "unabdingbar zur Erreichung der EU-Klimaziele" sei. Die Kanzlei Lansky, Ganzger, Goeth wiederum stellt vor allem darauf ab, dass die letzte Länderstellungnahme von 2023 nicht mehr verbindlich sei, weil der EU-Gesetzesentwurf, auf den sie sich bezog, seither massiv überarbeitet wurde und Gewessler ja am Montag quasi über einen neuen Text abzustimmen hatte.

Frage: Und durfte Gewessler entgegen der ÖVP-Linie in der Regierung zustimmen?

Antwort: Das ist die zweite heikle Rechtsfrage. Auf den ersten Blick erscheint die Sache klar: Gewessler durfte es nicht. Das Bundesministeriengesetz schreibt zwar vor, dass alle Minister die Amtsgeschäfte in ihren Bereichen alleine führen. Die EU-Regelung zur Renaturierung berührt allerdings die Bereiche mehrerer Ministerien: neben dem Klimaministerium auch das Landwirtschaftsministerium von Norbert Totschnig, weil auch Fragen der Agrarpolitik und der Forstwirtschaft tangiert sind. Sind mehrere Ministerien zuständig, muss laut Gesetz in Österreich "Einvernehmen" zwischen den Ministerien hergestellt werden, das es vor der Abstimmung in der EU offensichtlich nicht gab. Es bestehen allerdings Zweifel, ob diese strikte Vorgabe mit dem Einvernehmen auch für Abstimmungen in der EU gilt.

Frage: Wie das?

Antwort: Der vom Umweltministerium beauftragte Jurist Daniel Ennöckl befindet, dass bei Abstimmungen in EU-Gremien mehr Spielraum für Politiker bestehe. Die Verpflichtung, ein Einvernehmen herzustellen, gelte nur für Verwaltungsakte in Österreich. Bei Abstimmungen im Rat auf EU-Ebene würden Gesetze erlassen. Hinzu kommt: Wenn sich zwei zuständige Ministerien nicht einig sind, bedeute das streng genommen, Österreich könne an einer EU-Abstimmung gar nicht teilnehmen – auch eine Enthaltung müsse ja zuvor in der Regierung koordiniert sein. Das würde aber zu einer Handlungsunfähigkeit des Regierungsmitglieds führen, so Ennöckl. Genau das sei aber nicht die Intention im Bundesministeriengesetz. Dort sei festgehalten, dass Minister eine Entscheidungspflicht treffe.

Die Renaturierungsverordnung soll unter anderem den Lebensraum von Schmetterlingen schützen.
IMAGO/Florian Gaul

Frage: Was sagen andere Juristen dazu?

Antwort: Gegen diese Darstellung gibt es Widerspruch. Im erwähnten Gutachten des Grazer Verfassungsjuristen Bezemek für das Landwirtschaftsministerium heißt es, dass die Renaturierungsverordnung den Landwirtschaftsminister verpflichte, tätig zu werden, etwa beim Schutz der Ökosysteme. Totschnig hätte daher eingebunden werden müssen. Und auch der Verfassungsjurist Peter Bußjäger sagt, das Bundesministeriengesetz gelte auch in Fällen, wo Minister im Zuge der Gesetzgebung tätig werden, etwa bei der Ausarbeitung von Rechtstexten, also auch im gegenständlichen Fall.

Frage: War es das erste Mal, dass ein Minister gegen die Linie des Koalitionspartners gestimmt hat?

Antwort: Nein, die Grünen sagen, dass Mitte Mai Landwirtschaftsminister Totschnig im EU-Rat bei einer Abstimmung über die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) für niedrigere Umweltvorgaben gestimmt habe, obwohl dies nicht akkordiert war. Das Klimaschutzministerium legte damals einen Einspruch ein. Totschnig argumentiert, dass eine Prüfung eindeutig seine Zuständigkeit ergeben habe. Eine alte Rechtsverletzung würde freilich auch keine neue sanieren.

Frage: Sollte sich herausstellen, dass Gewessler nicht hätte zustimmen dürfen, was bedeutet das für das Renaturierungsgesetz in der gesamten EU?

Antwort: Sicher ist, dass das Abstimmungsverhalten der österreichischen Grünen-Politikerin dafür gesorgt hat, dass das Renaturierungsgesetz im Rat eine Mehrheit gefunden hat. Das Bundeskanzleramt hat bereits angekündigt, beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) beantragen zu wollen, dass die Verabschiedung der Verordnung für nichtig erklärt wird. Allerdings bezweifeln Juristen, dass das erfolgreich sein kann. Das EU-Regelwerk schreibt vor, dass jedes Land in den EU-Räten durch einen bevollmächtigten Minister vertreten sein muss. Laut Frank Schorkopf, Professor für EU-Recht an der Universität Göttingen, bedeutet das allerdings nur, dass eine formale Zuständigkeit gegeben sein muss. Ob ein Minister also politisch oder rechtlich von seinem Heimatstaat aus zustimmen darf, ist nicht entscheidend.

Frage: Also gilt das Ergebnis der Abstimmung?

Antwort: Das wird letztlich der EuGH entscheiden müssen. Laut Schorkopf gibt es keinen juristisch entschiedenen Präzedenzfall, auch wenn es schon Alleingänge von Ministern gab, etwa 2017, als der deutsche Agrarminister Christian Schmidt (CSU) bei einer Glyphosat-Entscheidung in Brüssel gegen die deutsche Regierungslinie gestimmt hat. Die Wiener Vertragskonvention, ein völkerrechtliches Abkommen dazu, was beim Abschluss von internationalen Abkommen gilt, legt den Schluss nahe, dass ein entsendeter Minister aus einem Land für dieses in internationalen Gremien wie im Rat verbindlich abstimmt. Im Nachhinein kann sich ein Land "nicht auf sein innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen", heißt es dort.

Frage: Und in Österreich? Da entscheidet der Verfassungsgerichtshof am Ende, was gilt?

Antwort: Das wäre die Instanz, die über all die Argumente verbindlich entscheiden könne. Wobei derzeit noch nicht klar ist, ob der VfGH überhaupt ins Spiel gebracht wird. Die Frage, ob Gewessler die ÖVP-Minister einbinden musste, könnte mittels Ministeranklage vor den VfGH gebracht werden. Dafür bräuchte es aber eine Mehrheit im Nationalrat – solange die türkis-grüne Koalition steht, kann es diese Mehrheit nicht geben. In der Frage, ob Gewessler sich rechtswidrig über die Länderstellungnahme hinweggesetzt hat, könnten nur die Länder selbst gemeinsam eine Ministeranklage beim VfGH einbringen. Das ist aber politisch noch unwahrscheinlicher, weil die SPÖ-regierten Länder Wien und Kärnten sich über Gewesslers Zustimmung bestimmt nicht beschweren werden. Bleibt Artikel 138a der Bundesverfassung. Demnach kann eine Landesregierung beim VfGH veranlassen, dass ein Verstoß gegen eine staatsrechtliche Bund-Länder-Vereinbarung festgestellt wird. Es scheint sehr plausibel, dass ein ÖVP-geführtes Bundesland diesen Weg beschreiten wird. (Theo Anders, András Szigetvari, 18.6.2024)