EU-Ratspräsident Charles Michel in Brüssel, umringt von Medienvertretern mit Mikrofonen.
EU-Ratspräsident Charles Michel musste in der Nacht auf Dienstag verkünden, dass das Personalpaket mit den EU-Top-Jobs noch nicht geschnürt ist.
AP/Omar Havana

Die Hoffnungen des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz gingen nicht auf. Er sei sich in Bezug auf die Besetzung der künftigen EU-Spitzenposten "ganz sicher, dass wir in kürzester Zeit Verständigung erzielen können", sagte der SPD-Politiker bei seiner Ankunft beim informellen EU-Gipfel. Fünf Stunden später aber hatten der Sozialdemokrat aus Deutschland und seine 26 Staats- und Regierungschefkollegen in der entscheidenden Frage, ob die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit nominiert wird oder nicht, keinen Konsens erzielt.

Der Grund: Die deutsche Christdemokratin und der aus Portugal stammende frühere Premierminister António Costa waren zwischen den beiden großen Parteifamilien, die das EU-Parlament in Straßburg dominieren, im Vorfeld als Kandidaten im Grunde zwar ausgedealt worden. Costa soll Charles Michel ab 1. Dezember als Ständiger Präsident des Europäischen Rats ablösen. Aber die Christdemokraten kamen – vertreten durch nicht weniger als 13 von 27 Regierungschefs, mit neuen Forderungen und Machtansprüchen.

Sie gingen aus der Wahl gestärkt hervor. Unter anderem werden auch die Abgeordneten von Tisza, der Partei des neuen ungarischen Polit-Stars Péter Magyar, in der EVP-Fraktion Platz nehmen. Die EVP will den Portugiesen Costa zwar akzeptieren, aber nur für eine einmalige Amtszeit von zweieinhalb Jahren, wie in den EU-Verträgen vorgesehen. Danach solle er nicht verlängert werden, es müsste jemand von der EVP folgen. Der Kroate Andrej Plenković bietet sich an.

Sozialdemokraten überrascht

Da die EVP auch auf einer Verlängerung des Mandats von Roberta Metsola als Parlamentspräsidentin in Straßburg bestand, war Sand ins Getriebe des Nominierungsprozesses gekommen. Das fordernde Auftreten der Christdemokraten stieß auf Widerstand bei den übrigen Regierungschefs.

Begründet wurde es damit, dass bei zwei anderen wichtigen Personalien ohnehin bereits ein Liberaler und eine den Sozialdemokraten nahestehende Ex-Ministerin Topjobs bekämen: der niederländische Premier Mark Rutte als Nato-Generalsekretär beim Gipfel in Washington in drei Wochen; und die Spanierin Nadia Calvino, die Chefin der Europäischen Investitionsbank (EIB) wurde.

Ratspräsident Michel trat daher nach Mitternacht vor die Kameras, um das Nichtergebnis zu verkünden. Man habe sich vorgenommen, beim nächsten regulären EU-Gipfel am 27./28. Juni Nägel mit Köpfen zu machen, sagte er. Es sei "unsere gemeinsame Pflicht, bis Ende Juni zu entscheiden". Bis dahin wird zwischen den Staaten und Parteien weitergepokert.

Ringen um EU-Arbeitsprogramm bis 2029

Auch eine Nachfolgerin für den scheidenden Hohen Beauftragten für die gemeinsame Außenpolitik Josep Borrell muss gefunden werden. Michel wies aber darauf hin, dass es nicht nur um Personalien gehe. Vor allem müsse das Arbeitsprogramm der nächsten EU-Kommission in seinen Grundzügen besprochen werden, erklärte der Ständige Ratspräsident.

Das muss schnell gehen. Sollte von der Leyen nächste Woche nominiert werden, dann könnte sie bereits Mitte Juli nach der Konstituierung des Parlaments in Straßburg gewählt werden. Sie braucht eine absolute Mehrheit von 361 Stimmen der insgesamt 720 EU-Mandatare. Um diese zu gewinnen, muss sie Koalitionsgespräche mit den für eine Zusammenarbeit relevanten Fraktionen führen. Diese sollten gleich nach der Nominierung am 2. Juli starten.

Neben EVP und Sozialdemokraten (S&D) will sie auch mit den Liberalen direkt verhandeln. Gespräche über eine eventuelle Beteiligung der Grünen am Pakt oder eine Abstimmung mit den italienischen Konservativen von Premierministerin Giorgia Meloni wird es zunächst nicht geben, aber eine informelle Verständigung. Grüne und Sozialdemokraten kündigten an, im Parlament nicht für von der Leyen zu stimmen, wenn diese mit "der Faschistin Meloni" kooperieren wolle, um sich Mehrheiten zu sichern.

Kallas Favoritin als EU-Außenbeauftragte

Die Liberalen im Europäischen Rat gingen trotz Verlusten davon aus, dass sie mit Kaja Kallas, der estnischen Premierministerin, die Nachfolgerin des Hohen Beauftragten Josep Borrell stellen werden. Kallas erklärte sich grundsätzlich bereit dazu. Das Amt ist in einer Doppelrolle mit der Funktion einer Vizepräsidentin der EU-Kommission verbunden. Kallas hätte also operativ eine Schlüsselrolle neben von der Leyen, insbesondere in Sachen Ukrainekrieg und Russland. (Thomas Mayer aus Brüssel, 18.6.2024)