Eine verzweifelte Frau vor einer Waage. 
Bei Anorexie fehlt manchmal zuerst der Leidensdruck, wenn es von allen Seiten Lob für den Gewichtsverlust gibt.
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Eine aktuelle deutsche Studie zeigt einen massiven Anstieg der Essstörungen bei Mädchen und jungen Frauen. Zwischen 2012 und 2022 stiegen laut Zahlen der KKH Kaufmännischen Krankenkasse die Fälle von Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie und Binge-Eating-Disorder bei den zwölf- bis 17-jährigen Mädchen um rund 54 Prozent an. Zwischen 2019 und 2022 sogar um 38 Prozent, ein großer Teil des Anstiegs fällt somit auf die Zeit der Lockdowns und der pandemiebedingten Einschränkungen der sozialen Kontakte.

In Österreich gibt es keine genauen Zahlen darüber, wie viele Menschen an Essstörungen leiden. Klar ist aber sowohl bei der Hotline für Essstörungen in der Wiener Gesundheitsförderung (WiG) als auch beim Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen Sowhat, dass auch in Österreich immer mehr Mädchen und Frauen mit Essstörungen kämpfen.

Bei Gabriele Haselberger, Beraterin und Therapeutin in der WiG, melden sich Angehörige, Betroffene und Fachleute. Das Altersspektrum ist groß, die älteste Anruferin war bisher 60 Jahre alt, doch die meisten sind zwischen 20 und 40 Jahren – und weiblich. Doch es werden auch immer mehr Männer und Burschen.

Erst mal gehe es darum, die Angst ein wenig zu nehmen und klarzumachen, dass man etwas tun kann, sagt Haselberger über ihre Beratungsgespräche. "Je früher eine Essstörung behandelt wird, desto größer sind die Chancen, dass jemand wieder gesund wird." Das bestätigt auch Christof Argeny, ärztlicher Leiter von Sowhat, wo es einen starken Anstieg von Patientinnen gibt. "Sie werden immer jünger und körperlich und psychisch immer kränker", schildert er die Lage. Vor fünf Jahren war die jüngste Patientin 14, jetzt sind die jüngsten zehn Jahre alt. Allerdings nur, weil Sowhat Patient:innen ab zehn Jahren aufnimmt. Anfragen für die bis zu drei Jahre durch die Krankenkasse finanzierten Therapieplätze gibt es schon für Acht- oder Neunjährige.

Wachsende Unzufriedenheit

Wer von welcher Form der Essstörung betroffen ist, hängt stark vom Alter ab. Wenn man alle Patient:innen zusammenfasst, teilen sie sich zwar in ein Drittel Anorexie, ein Drittel Bulimie und ein Drittel Binge-Eating auf. Bei den Jüngeren überwiegt allerdings Anorexie und Bulimia nervosa, sagt Argeny. Junge Frauen und Mädchen switchen zwischen diesen Essstörungen auch öfter hin und her. "Wenn junge Menschen abnehmen und positives Feedback bekommen, bestärkt sie das in ihrem Fokus auf ihr Gewicht und ihre Figur." Doch wenn sie irgendwann ihren restriktiven Umgang mit Essen oder Sport nicht mehr durchhalten können, kommt ein Essanfall, und das wird durch Erbrechen kompensiert, erklärt Argeny das oft enge Verhältnis zwischen Anorexie und Bulimie.

Bei der Anorexie, die eher jüngere Menschen betrifft, gibt es aus Sicht der betroffenen Personen einen gewissen Gewinn, sagt Haselberger. "Wenn alles andere um sie herum nicht kontrollierbar ist, so können sie wenigstens über ihren Körper, über ihr Essen bestimmen – das hält den Leidensdruck gering."

Bei den wenigsten liegt eine reine Essstörung vor, sondern die Erkrankung tritt meist in Kombination mit Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Suchtproblemen auf. Wie auch die Zahlen aus Deutschland zeigten, war die Zeit der Pandemie eine der Rückschläge. Generell erleiden 20 bis 25 Prozent der Patientinnen Rückfälle, sagt Argeny. Nach Corona benötigten aber auffallend mehr wieder Therapie. Haselberger erzählt von einer Mutter, deren zwölfjährige Tochter "gerade dabei war, sich eine wenig von der Familie zu emanzipieren, dann kam die Pandemie, und das Mädchen hat wieder regrediert – und hat auch eine Essstörung entwickelt".

Auch Binge-Eating-Disorders haben sich in der Zeit verstärkt, sagt Haselberger. "Der Gang zum Kühlschrank war jederzeit möglich", die Unzufriedenheit mit dem Körper sei größer geworden, und die intensivere Nutzung von sozialen Medien habe das nochmals verstärkt.

Soziale Medien werden oft genannt, wenn es um den Anstieg von Essstörungen und einen negativen Selbstwert geht. Haselberger sieht in sozialen Medien zwar auch viel Positives, Jugendliche können sich austauschen. "Aber in der Pubertät kommt es zu vielen körperlich Veränderungen, die von Unsicherheiten begleitet werden." Diese könnten soziale Medien befeuern – und es werden auch vermeintliche "Lösungen" angeboten, von Fitness bis Ernährungstipps.

Sozialer Rückzug

Christof Argeny sieht in der Flut von Informationen, die auf Pubertierende einprasseln, eine Überforderung, die schwer zu verarbeiten ist. "Ich bin jetzt 60, als ich jung war, erschienen Jugendmagazine wöchentlich oder monatlich, nur durch sie hatte man Kontakt mit der großen Welt da draußen." Heute würden junge Menschen in einer Zeit, in der sie ohnehin mit sich hadern, ständig mit Bildern und Idealen konfrontiert. Oft fehle auch der familiäre Rückhalt, die Eltern haben selbst Probleme und wenig Zeit, auf die Schwierigkeiten und Themen ihrer Kinder einzugehen.

Sozialer Rückzug und eine zunehmende Beschäftigung mit Essen können erste Anzeichen für eine Essstörung sein. Ausreden, um nicht essen zu müssen, weil man schon in der Schule gegessen habe, oder ein intensives Sportpensum, das man täglich unbedingt einhalten will, weitere. "Oft werden Nahrungsmitteln in Gut und Böse unterteilt", sagt Argeny, was manchmal von den Eltern auch positiv gewertet wird. Adipositas sei ebenso ein Problem, und manche Eltern seien froh, dass sich das Kind endlich mit ausgewogener Ernährung befassen. Doch wenn andere Dynamiken hinzukommen und das Essen immer mehr selektiert und reduziert wird und an Stellenwert gewinnt, können das Anzeichen für eine Essstörung sein.

Das Krankheitsbild ist multifaktoriell, deshalb muss auch das Therapiekonzept multimodal sein, sagt Argeny. Der Schwerpunkt liegt bei Sowhat auf Psychotherapie, begleitet von allgemeinmedizinischen, psychiatrischen Kontrollen und diätologischer Beratung. Ebenso gibt es psychoedukative Gruppen, in denen Entspannungstechniken, soziale Kompetenz, Achtsamkeit oder Spannungsregulation geübt werden. "Essstörung ist auch eine Mischung aus Sucht und Zwangsstörung und das äußert sich auch in wenig Gespür und Wertschätzung für den Körper und seine Belastbarkeit, daher ist auch Bewegungstherapie ein sinnvoller Ansatz", sagt Argeny.

"Essstörung ist auch eine Mischung aus Sucht und Zwangsstörung, und das äußert sich auch in wenig Gespür für den Körper, daher ist auch Bewegungstherapie ein sinnvoller Ansatz", sagt Argeny. Therapeutin Haselberger betont, dass es jedenfalls viel Geduld brauche. "Es ist ein Prozess der kleinen Schritte, sowohl von den Betroffenen als auch von den Angehörigen."

Nähe und loslassen

Eltern könnten helfen, indem sie ihre eigene Sorge bezüglich des Essverhaltens artikulieren ohne zu belehren und an den Problemen des Kindes oder der Jugendlichen teilnehmen, rät Argeny. "Betroffene brauchen Zuwendung und Aufmerksamkeit, gleichzeitig müssten Eltern aber auch loslassen können und Verantwortung abgeben." Seine Kolleg:innen und er sehen aber oft zwei Extreme: Eltern, die überfürsorglich sind und kaum Gelegenheit geben, allein mit dem Kind zu reden, andere wiederum "liefern das Kind wie ein Auto in der Werkstatt ab".

Haselberger rät auch dazu, Essen, Essverhalten oder das Aussehen nicht groß zu kommentieren. "Da können sich Erwachsene bei der Nase nehmen und überlegen, wie sie selbst darüber reden." Betroffene bekamen oft schon früh mit, dass Diäten ein Thema sind. Es spiele auch eine Rolle, wie in einer Familie über Gefühle gesprochen wird, wie mit Konflikten umgegangen wird. Besonders wichtig findet Haselberger die Frage, wie in einer Familie mit Grenzen umgegangen wird und ob diese respektiert und angenommen werden.

Die Stärkung des Selbstwertgefühls ist für Christof Argeny für die Prävention zentral, und damit könnte man schon im Kindergarten beginnen. "Je selbstbewusster und selbstbestimmter ein Kind ist, seine Bedürfnisse kennt, artikulieren und durchsetzen kann, umso weniger anfällig wird es für solche pathologische Muster sein." Ebenso sei es enorm wichtig, einen kritischen Umgang mit sozialen Medien zu unterstützen. (Beate Hausbichler, 18.6.2024)