Felix Stadler, Mittelschullehrer und grüner Bildungssprecher in Wien. 
Lehrer Stadler im Unterricht: "Wir schaffen es nicht, allen Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen."
Privat

Der gedankliche Ausflug ins Grüne wurde zur holprigen Angelegenheit. Mit einem simplen Text hatte Felix Stadler versucht, seinen Schülerinnen und Schülern das Wesen des Waldes nahezubringen. Fast jedes Wort habe jedoch einer Erklärung bedurft. "Baumkrone" und "Waldboden" seien ebenso ein Rätsel gewesen wie die Adjektive "sanft" und "feucht". Der Großteil der Kids, sagt der Lehrer, könne keine zwei Absätze so lesen, um in der Folge Fragen beantworten zu können.

Stadler unterrichtet Biologie und Mathematik in zwei zweiten Klassen – Mittelschule, nicht Volksschule. Darüber hinaus ist der 29-Jährige noch Landtagsabgeordneter und Bildungssprecher der Grünen in Wien mit Außenseiterchancen auf ein Nationalratsmandat. Doch was er aus dem Schulalltag berichtet, klingt so gar nicht nach dem Schönreden von Integrationsproblemen, das seiner Partei oft nachgesagt wird.

Keine Chance auf guten Job

Wie in anderen Mittelschulen Wiens besteht Stadlers Klientel in der Kleinen Sperlgasse im Bezirk Leopoldstadt hauptsächlich aus Zuwandererkindern. 48 seiner 50 Schützlinge haben eine andere Erstsprache als Deutsch. Obwohl viele davon keineswegs frisch als Flüchtlinge zugereist, sondern in Wien geboren seien, gebe es "große Schwierigkeiten". Den Burschen und Mädchen mangle es nicht nur an Deutschkenntnissen, sondern auch am Allgemeinwissen, um Begriffe und Zusammenhänge wenigstens in der Muttersprache zu verstehen. "Sie können sich in keiner Sprache genügend ausdrücken", sagt Stadler: "Damit ist ihnen jede Chance auf einen ordentlichen Job, eine weiterführende Schule oder gar die Universität verbaut."

An der Motivation fehle es vielen nicht, sehr wohl aber an Unterstützung zu Hause: "Viele haben wohl weder ein eigenes Zimmer, einen Schreibtisch noch Eltern, die bei Schulaufgaben helfen können." Ebenso erlebe er Väter und Mütter, die sich schlicht nicht kümmerten, erzählt Stadler. Doch letztlich helfe es den Leidtragenden nichts, mit dem Finger auf die Erziehungsberechtigten zu zeigen: "Damit sie eine Chance bekommen, muss der Staat helfen."

Überforderte Kindergärten

Das passiere bereits in jungen Jahren viel zu wenig. Die Gruppen in den Kindergärten seien weitaus zu groß, um die Buben und Mädchen ausreichend zur fördern, es fehle an Kindergartenpädagoginnen und Sprachlehrerinnen. Dass das städtische Bemühen um Aufstockung von einer hohen Drop-out-Quote gebremst werde, wundert Stadler nicht: "Viele fühlen sich auf verlorenem Posten."

Resultat: Einem Drittel der Schulanfänger Wiens fehlen die nötigen Deutschkenntnisse, um dem Unterricht zu folgen – dabei wurden zwei Drittel dieser Kinder in Österreich geboren. Die Volksschulen könnten diese Defizite nicht kompensieren, zumal Planposten wegen Mangels an Lehrerinnen und Lehrer unbesetzt blieben, sagt Stadler. Auch hier würden viele Kräfte abspringen: "Die sagen sich, das gebe ich mir nicht mehr."

Durchmischung fehlt

Allerdings waren die Grünen in Wien nicht immer in Opposition. Vor Stadlers Einzug in den Landtag hat seine Partei zehn Jahre lang als Juniorpartner der SPÖ mitregiert. Wäre da nicht genug Zeit gewesen, die Förderung in den Kindergärten auszubauen? Es sei sehr wohl viel passiert, erwidert Stadler, allerdings vor allem in der Quantität. Wien habe die Anzahl der Plätze Jahr für Jahr "unpackbar" stark ausgebaut, biete ein Betreuungsangebot wie kein anderes Bundesland und obendrein das Gratiskindergartenjahr. "Hätte man in der Qualität mehr machen können? Ja."

Als weiteren schädlichen Faktor identifiziert Stadler die "fehlende Durchmischung". Wie DER STANDARD unlängst thematisierte, hat sich an manchen öffentlichen Schulen eine Art Segregation etabliert: Familien aus den Bildungsschichten schicken ihre Kinder an Standorte mit dem guten Ruf, an den anderen ballt sich die integrationsbedürftige Klientel. Um Hotspots zu verhindern, müsse die elterliche Freiheit bei der Schulwahl ein Stück weit eingeschränkt werden, glaubt der Pädagoge und schlägt ein Modell nach New Yorker Vorbild vor: Die Erziehungsberechtigten könnten fünf Schulen nennen – welche es davon wird, entscheide aber die Behörde. Das allein würde schon helfen, um besser zu durchmischen.

Probleme unterschätzt

Wieder drängt sich eine Gegenfrage auf. Hat die Zuwanderung womöglich eine Dimension angenommen, die das Bildungssystem zwangsläufig an die Grenzen des Möglichen bringen muss? Haben die Grünen da eine Gefahr ignoriert? Zur Asyl- und Migrationspolitik will Stadler nicht Stellung nehmen, da fehle ihm die Kompetenz. Was die Schwierigkeiten mit dem Deutschlernen betrifft, gesteht er aber zu: "Man hat gewisse Probleme unterschätzt."

Tatsache sei aber auch, dass es immer die Grünen seien, die sich im Verein mit der SPÖ und den Neos für Investitionen in die Integration einsetzten. Die FPÖ und immer wieder auch die ÖVP stimmten dagegen. Dabei sei jeder Euro bitte nötig. "Eines der reichsten Länder, eine der reichsten Städte schafft es nicht, allen Schülerinnen und Schülern Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen", sagt Stadler: "Wir verlieren da ganze Gruppen an Jugendlichen."

Mehr Sozialarbeiter als Lehrer?

Gegen einen anderen Befund, der Schulen in der Debatte ausgestellt werde, wehre er sich aber. Dass er kaum noch zum Unterrichten komme, weil sich alle ständig die Köpfe einschlugen, könne er nicht bestätigen: "Ich bin die meiste Zeit schon noch Lehrer statt Sozialarbeiter."

Sicher: Gewaltausbrüche habe es auch an seiner Schule schon gegeben, ebenso antisemitische Tiraden nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Und als er unlängst mit einem Armband von der Pride-Parade in die Klasse kam, habe er sich einschlägige Fragen gefallen lassen müssen: "Was tragen Sie da, Herr Stadler? Sie wissen eh, dass das viele von uns nicht gut finden." Doch diese Phänomene dürfe man nicht verallgemeinern: "Es gibt stets viele, die dagegenhalten."

Immer noch halte er das Lehrerdasein für einen der großartigsten Jobs, sagt Stadler, und Erfolgsgeschichten erlebe auch er: Wie gut seine ukrainischen Flüchtlingskinder in der Schule zurechtkämen, "ist kaum zu glauben". (Gerald John, 25.6.2024)