Junges Paar sitzt auf dem Boden hinter eine Glasscheibe. Sie sind in ein ernstes Gespräch vertieft.
Bekommt man eine lebensverändernde Diagnose, tauchen jede Menge Gefühle und Gedanken auf. Mit diesen zurechtzukommen kann dem Versuch gleichen, eine Schneelawine mit einem Speisetablett aufzuhalten.
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Jeder zweite Mensch bekommt irgendwann im Laufe seines Lebens Krebs. Aktuell leben in Österreich etwa 400.000 Personen mit so einer Diagnose. Und obwohl die Zahlen bekannt sind, wirken sie irgendwie abstrakt – bis es einen selbst trifft. Was passiert, wenn man eine so bedrohliche Diagnose bekommt? Traurigkeit und unfassbare Gefühle mischen sich dann mit dem Versuch, Worte zu finden, klare Gedanken sind kaum möglich. Die Diagnose ist da wie ein unverrückbarer Felsen in der Ferne – aber deshalb wird sie nicht gleich zur eigenen Realität. Zuerst einmal ist sie weit, weit weg.

Es dauert, bis man begreift, etwa wenn der behandelnde oder befundende Arzt spricht. Mit Höflichkeit und Respekt hört man zu. Reizworte fallen: maligne Zellen, bösartig, Tumor, Krebs. Als Patient hört man, aber erst nach einer kleinen Ewigkeit versteht man auch, dass einen das jetzt selbst betrifft. Aha, also ich habe jetzt diesen Krebs. Aha ... Nach den fünf Stufen der Trauer, die die Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler Ross entwickelt hat, müsste jetzt die Phase der Verleugnung kommen: "Nein, das kann nicht sein!" Tatsächlich kommt erst einmal: nichts. Leere.

Frische Spuren im Schnee

Das psychische System sucht nach einer Reaktionsmatrix, die aber nicht vorhanden ist. Die Diagnose ist in den allermeisten Fällen eine völlig neue, noch nie dagewesene Situation. Man hat kein Referenzsystem dafür, egal wie oft man womöglich schon darüber nachgedacht hat, egal wie oft oder nah man es bei anderen erlebt hat. Das ist am ehesten vergleichbar mit frischen Spuren im Schnee, wo zuvor noch niemand gegangen ist. Das System schaltet in einen Bewältigungsmodus.

Am Anfang sind die Kanäle nach draußen erst einmal zu. Die Informationen, die Ärztin oder Pfleger geben, kommen nicht an. Diese vermutlich wichtigen Fakten perlen einfach ab. Erst langsam entwickelt sich ein Hilfskonstrukt wie ein Geländer: Sachlichkeit. Man hält sich fest an der Frage: Was ist jetzt als Nächstes zu tun?

Die Idee ist, Ruhe zu bewahren und erst einmal zu verarbeiten. Ein Notprogramm taucht nicht auf. Wäre aber gut. Es beginnt an diesem Punkt ein Zustand, der mit einem Rausch vergleichbar ist. Man tut, man funktioniert. Aber oft mechanisch, automatisiert, wie auf Autopilot. Man ist freundlich, sagt sinnvolle Sachen, ist aber nicht ganz bei sich.

Dieser Rausch hält meist einige Tage an. In den ersten Stunden und Tagen dominieren die Erledigungen, die jetzt unbedingt zu tun sind. Diese absichtliche Nüchternheit erinnert an die Rennereien, die nach einem Todesfall zu bewältigen sind. Die man ausführt, ohne ganz bei sich zu sein. Erst in der Nacht oder in ganz seltenen Momenten kommt Emotionales an die Oberfläche: Tränen. Verlorenheit. Verständnislosigkeit. Schock. Gut, wenn man diese Momente mit jemandem teilen kann. Unendlich schwer, wenn man Nahestehenden oder Kindern von der Diagnose erzählt. Natürlich ist jede Erzählung von Hoffnung umrankt. Trotzdem kann man die Fantasie bei dem Wort Krebs nicht bremsen.

"Jetzt bloß keinen Film drehen!", ist der ausgesprochene oder unausgesprochene Appell, der das Denken an das Unaussprechliche verhindern soll. Diesen Abgrund gilt es zu meiden, es ist jetzt schon Erdbeben genug.

Unterbrochenes Leben

Wenn man frisch verliebt ist, findet man plötzlich Zeit für Dinge, für die man sonst nie Zeit hat. Wenn man schwer erkrankt ist, findet man auch die Zeit. Für Untersuchungen, Magnetresonanz, Blutbefund, Ultraschall und, und, und. Irgendwann entwickelt sich ein routiniertes Selbstverständnis: Ich bin Patient!

Nein, das ist nichts, woran man sich in wenigen Tagen gewöhnen kann. Man entwickelt vielmehr eine andere Ausgabe seiner selbst, eine, die mit Röntgenbildern und Befunden herumrennt, im Internet recherchiert, die selbst zum Laienspezialisten wird. Immer noch leitet einen das Geländer der Sachlichkeit, es gibt Dinge zu regeln. Es gibt keinen Übergang, keine Verbindung vom Normalleben zum Patientenleben. Es ist ein anderer Seinsmodus, in den man ruckartig versetzt wird. Das Normalleben mit den Normalproblemen, vom Staubsaugen bis zum Rechnungen-Bezahlen, wird winzig klein. Manchmal hatte man sich das vielleicht schon gewünscht. Jetzt wünscht man sich diese kleinen Probleme wieder her.

Die Nächte sind von Wachphasen unterbrochen. Die Gedanken sind von Emotionen unterbrochen. Das Leben ist unterbrochen. Die Träume sind wirr und wild. Das System versucht zu verarbeiten. Längst haben vernünftige Phrasen Einzug gehalten: "Jetzt müssen wir schauen, was die neue Histologie ergibt", "Jetzt müssen wir erst einmal warten, ob wir nächste Woche schon diesen Termin bekommen." An solchen Phrasen hält man sich fest. Hat die Verarbeitung überhaupt schon begonnen?

Teilen des Unverständlichen – sich helfen lassen

Wer weiß schon, was Verarbeitung eigentlich bedeutet. Tatsächlich bleibt das Geländer der Sachlichkeit für eine Weile bestehen. Vermutlich auch gut so. Parallel dazu läuft aber der Film mit Gefühlen, Tränen, Sorgen und vielem Undenkbaren, Unaussprechlichen. Es ist wie das Leben selbst: unendlich bedeutungslos im Ganzen gesehen und unendlich bedeutungsvoll im Einzelnen. Nichtig und unwichtig im Weltgeschehen – was ist schon ein Kranker mehr oder weniger – und gleichzeitig lawinenartig bedrohlich für einen selbst. Das lässt sich kaum sinnbringend verarbeiten, es gibt kein Rezept. Aber gibt es Hilfe?

Porträt Stefan Bienenstein
Stefan Bienenstein hat in Psychotherapiewissenschaft promoviert, er ist Psychotherapeut, Universitätslektor, Lehrtherapeut und Supervisor in Wien.In seiner Arbeit mit mobilen und stationären palliativen Teams hat er die großen Unsicherheiten und Ängste Betroffener und deren Angehöriger erfahren. Sein Beitrag ist Teil eines Projekts, das sich mit lebenserschütternden Diagnosen beschäftigt. Motiviert durch seine beruflichen und eigenen Erfahrungen, schreibt er über diese besonderen Momente.
(c) Bienenstein

Es gibt zumindest Linderung, wenn man aushält, dass andere einem beim Tragen dieser Last helfen. Manche tun sich schwer damit, sich helfen zu lassen. Das ist zwar blödsinnig, aber nachvollziehbar. Dem Unaussprechlichen gemeinsam entgegenzutreten, gleichzeitig schüchtern und entschlossen, ist aber immer noch angenehmer, als allein einem Strudel von Gefühlen ausgeliefert zu sein. Beistand hat etwas mit Dabeistehen zu tun. Es geht aber bei dieser Art der Unterstützung nicht um Fachliches. Dieses Programm läuft ja ohnedies.

Dieser Beistand meint Menschliches, Liebevolles, Verstehendes, das Teilen des Unverständlichen.

Kein schonendes Filtern

Es ist ein bisschen so wie die Frage, wie man ein frisch lackiertes Auto richtig pflegt. Der neue Lack ist sehr verletzlich, man will auf keinen Fall etwas falsch machen – und weiß aber nicht genau, wie man es richtig macht. Diese Ungewissheit wird man nicht los, außer man spricht darüber. Im Idealfall mit dem Betroffenen, der Betroffenen selbst. "Ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt richtig reagieren soll ..." ist tausendmal besser als ein bemüht fröhliches "Das wird schon!".

In den allermeisten Fällen ist es kontraproduktiv, den Betroffenen, die Betroffene schonen zu wollen. Die erkrankte Person merkt, wenn Informationen zurückgehalten werden. Im Idealfall bedarf es keiner Informationsstrategie des Umfelds. Was dagegen dringend notwendig ist: Aufrichtigkeit, Authentizität. Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar. Einzige Ausnahme: Man wird extra darum gebeten zu filtern.

Betreibt man als Angehörige filternde Schonungspolitik, geht das mitunter nach hinten los. Man wird so zu einer weiteren Last für den Betroffenen. Schlimm genug, dass sich die eingespielten Rollen verändern. Wird man nun von den Angehörigen diplomatisch in Watte verpackt, geht das zu weit.

Auch Angehörige müssen reden

Entlastung, Beistand – soweit das in so einer Situation überhaupt möglich ist – funktioniert mit Aufrichtigkeit, nicht mit wohlgemeintem Heldentum. Ein Heldentum, das sich Dinge auf die Schultern nimmt, die man vielleicht allein gar nicht tragen kann. Der Angehörige leidet auch und hat Dinge zu bewältigen, und zwar gar nicht wenige. Bei ihm springt genauso die Verhaltens- oder Denkmatrix der Sachlichkeit an: "Jetzt diesen Arzt fragen", "Diese Freundin anrufen, die kennt doch den und den". Auch als Angehörige braucht man jemanden, um sich mitzuteilen. Reden hilft!

Ratschläge haben nun Hochsaison. Aus all den anfallenden Informationen entsteht womöglich etwas, das den Kranken vielleicht gar nicht so unterstützt, wie man glaubt. Ein gut gemeinter, aber deplatzierter Imperativ: "Du musst jetzt das und das tun", "Du musst jetzt unbedingt mit dem einen aufhören, mit dem anderen anfangen". Der Kranke hat ja noch lange keinen festen Boden unter den Füßen. Ihm jetzt zu sagen, was er zu tun hat, entmündigt ihn noch mehr, nimmt ihm Sicherheit und Vertrauen. Er hat ja gerade mit einer Vollentmündigung durch die Diagnose zu tun.

Was er braucht, ist Vertrauen: in sich, in seinen Körper, in die Art, wie er damit umgeht und wie er sich um Offenheit bemüht. Er braucht Zuspruch, weiterhin über seine Gefühle, Ängste und Sorgen sprechen zu können. Die richtigen Maßnahmen werden sich finden, sobald die Zeit zu handeln kommt. Zuversicht ist wertvoll und fragil. Sie wird aber leicht hohl, wenn sie in Phrasen serviert wird.

Auch hier ist das "Darüber-Reden", mit schonungsloser Offenheit, in aller Unaussprechlichkeit, das beste Rezept. Um das zu erzielen, braucht es den Raum und ein passendes Klima, das Offenheit und Wahrheit überhaupt erst ermöglicht. Die Authentizität der Anwesenden schafft den Raum dafür. Das gilt für Angehörige genauso wie für Ärzte, Pflegekräfte, Therapeuten. Erst deren Authentizität stößt die Türen zur Offenheit des Patienten auf. Erst auf dem Boden der Authentizität kann neben dem Beistand auch kompetente Beratung und Betreuung stattfinden.

Vergessen als Pause

Dieser offene, authentische Umgang, mit sich und anderen, ist anstrengend, aber lohnend. Wir entwickeln in unserem Leben unterschiedlichste Abwehrmechanismen, die uns schützen und emotional Unliebsames fernhalten. Anstrengendes gehört zum Unliebsamen. Nach einiger Zeit des Schockiertseins stellt sich deshalb wieder eine eigenartige Normalität ein. Sie ist so dünn wie die Haut auf der Milch, sie ist ebenso verletzlich, aber sie reicht aus, um wieder staubzusaugen, einzukaufen und gelegentlich – und sei es auch nur für eine Stunde – auf die Diagnose zu vergessen. Das ist fast so wie: "Es ist alles in Ordnung."

Fast, nicht ganz. Wir bewegen uns ja im Bereich der Verdrängung und Abwehr. Doch man kann davon ausgehen, dass diese Momente der Vergessenheit etwas Kraft geben – oder dass diese Momente zumindest nicht so unpackbar viel Kraft kosten. Umso wertvoller sind sie außerdem deshalb, weil einen die Diagnose sowieso wieder einholt. Zeitungsberichte, Fernsehbeiträge, Charityveranstaltungen – erst wenn man selbst betroffen ist, fällt einem auf, wie präsent schwere Krankheiten in unserem Leben sind.

Tendenzielle Wahrnehmung nennt sich das. Die Haut auf der Milch ist eben nur ganz dünn. Alle Versuche zu verdrängen oder zu vergessen werden durch diese geschärfte Wahrnehmung durchbrochen, man wird ständig wieder in die Realität katapultiert, vor der man sich gerade zu verstecken versuchte. Jedes Mal gibt es einen Ruck, und jedes Mal taucht eine ganze Palette an Emotionen auf, vom Selbstmitleid bis hin zum sehnsuchtsvollen Bedürfnis, traurig sein zu dürfen.

Macht der Krankheit

Die Diagnose und die Krankheit machen sich im Leben wichtig. Und sie machen auch die betroffene Person wichtig. Das Umfeld erstarrt, wird unsicher, weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Das ist auch eine Art Macht. Wie geht man damit um? Alle hören einem auf einmal zu, aus Anteilnahme und aus echtem Interesse – oder auch aus Höflichkeit. Doch wen interessiert es wirklich?

Fast keiner kann etwas damit anfangen, so wenige können oder wollen mitfühlen. Es ist ein bisschen wie die begeisterte Erzählung von den fantastischen Spagetti im letzten Italien-Urlaub. Die zuhörende Person kann die Nudeln weder schmecken noch riechen. Sie kann nur in Ansätzen erahnen, dass sie wirklich gut waren. Interessiert es die Person wirklich, was gerade passiert? Es ist zu befürchten, dass Berichte über die neuesten Entwicklungen der Behandlung, der Histologie, der aktuellsten Therapievorschläge sogar langweilen. Wie schrecklich fühlt sich das an?

Ein Mensch leidet, kämpft um seine Gesundheit, vielleicht um sein Leben – und das Umfeld ist davon gelangweilt? Ganz stimmt das so nicht. Ja, die Fakten können langweilen, was der Doktor dann und dann gesagt hat, wie eine Behandlung genau abläuft. Aber der Kampf ums Überleben, welche Ängste und Gefühle das hervorruft, das langweilt nicht. Die Farbe der Nudeln, die Details der Zubereitung, die Präsentation der Portion, solche trockenen Fakten rufen vielleicht wenig Interesse hervor. Die Begeisterung und Freude am Geschmack aber, damit kann man sich identifizieren, da kann man mitleben. Ein Gefühl dafür bekommen, wie sich das anfühlt. (Stefan Bienenstein, 22.6.2024)