Ärztin mit Clipboard, in der Unschärfe sitzt eine junge Frau im Gespräch, ihr Gesicht ist angeschnitten.
Antidepressiva wirken bei starken Depressionen stabilisierend. Doch sie haben zum Teil einen schlechten Ruf, viele Menschen fürchten sich vor Absetzsymptomen.
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Manchmal scheint das Leben so viele unüberwindbare Schwierigkeiten aufzutürmen, dass gefühlt nichts mehr geht. Man ist extrem niedergeschlagen, erschöpft, richtig antriebslos, nichts macht mehr Spaß. Es kann aber auch sein, dass man besonders leicht gereizt und irritiert ist, manchmal auch aggressiv wird. Wieder andere funktionieren im Berufsleben wie ein Uhrwerk, aber für die Freizeit fehlt jegliche Energie, sie ziehen sich komplett aus der Gesellschaft zurück. So unterschiedlich können die Symptome einer Depression sein.

23 Prozent der Frauen und 11 Prozent der Männer erkranken mindestens einmal im Leben an einer Depression – wobei Männer oft aufgrund weniger typischer Symptome nicht diagnostiziert werden. Im Laufe eines Jahres leiden in Österreich 7,4 Prozent der Männer und 12,6 Prozent der Frauen an einer Depression, das sind rund 750.000 Menschen. Ist man in so einer Situation, muss man nicht alleine durch, es gibt Hilfe. Therapie unterstützt dabei, auslösende Muster zu erkennen. Medikamente können helfen, die Stimmung zu stabilisieren und, je nach Bedarf, antriebssteigernd oder -dämpfend wirken. Sie können auch bei Angst- oder Zwangsstörungen helfen. Sie sind jedenfalls als Brückenhilfe gedacht, ergänzend zu einer Gesprächstherapie, und nicht als Medikament, das man lebenslang einnimmt. Wenn sich die Symptome bessern, verzichtet man wieder darauf.

Doch viele Menschen scheuen davor zurück, überhaupt Antidepressiva einzunehmen. Ein Grund dafür ist die weitverbreitete Annahme, dass es schwer werden kann, diese Mittel wieder abzusetzen. Das liegt einerseits an der Annahme, dass Antidepressiva abhängig machen können. Das stimmt aber nicht, im Gegensatz zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln wie etwa Benzodiazepinen haben Antidepressiva kein Suchtpotenzial. Sie haben aber andere Nebenwirkungen. Während der Einnahme kann es etwa zu Gewichtszunahme oder sexueller Lustlosigkeit kommen.

Jede siebente Person

Und auch wenn man die Medikamente absetzt, kann es zu Symptomen wie Schwindel, Übelkeit oder Schlafstörungen kommen. Doch wie viele Menschen betrifft das wirklich? Das haben Forschende aus Deutschland unter der Leitung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität zu Köln in einer Meta-Analyse mit Daten von über 20.000 Personen aus insgesamt 79 Studien untersucht. Die Analyse ist vor kurzem im renommierten Fachmagazin The Lancet Psychiatrie erschienen.

Tatsächlich erleben verhältnismäßig wenige Personen, die Antidepressiva einnehmen, unangenehme Absetzsymptome, ganz konkret eine von sechs bis sieben Personen. In den Studien, die analysiert wurden, waren Personen inkludiert, die an einer psychischen Störung, einer Verhaltensstörung oder einer neurologischen Entwicklungsstörung leiden. 31 Prozent berichteten von Absetzsymptomen, bei 2,8 Prozent waren diese schwer. Von jenen Teilnehmenden, die Placebo-Präparate einnahmen, hatten 17 Prozent Absetzsymptome, bei 0,6 Prozent waren diese schwer.

Aus diesen Angaben schlussfolgern die Autorinnen und Autoren, dass etwa 15 Prozent, also jede sechste oder siebte Person, tatsächlich Absetzsymptome bei Antidepressiva haben. Es scheint laut Analyse außerdem egal zu sein, ob man diese sukzessive ausschleicht, also die Dosis kontinuierlich verringert, oder ob man sie plötzlich absetzt.

Besser langsam ausschleichen

Das kann Michael P. Hengartner, klinischer Psychologe am Departement Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, der selbst nicht an der Untersuchung beteiligt war, nicht bestätigen: "In der Meta-Analyse wird nicht danach unterschieden, wie lange die Antidepressiva eingenommen wurden. Vor allem, wenn man die Medikamente länger einnimmt, gehen viele Expertinnen und Experten davon aus, dass ein Ausschleichen über zwölf Wochen und mehr nötig sein kann."

Er kritisiert außerdem den Ausdruck Absetzsymptome: "Dieser wurde im Jahr 1997 durch eine aggressive Marketingkampagne der Pharmaindustrie ins Leben gerufen. Der Begriff suggeriert, dass solche Symptome nur beim Absetzen eines Medikaments auftreten können. Das ist aber völlig falsch, sie können auch bei Dosisreduktionen oder Medikamentenwechsel entstehen."

Erich Seifritz, Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, ergänzt außerdem: "Absetzphänomene gibt es bei den meisten Medikamenten, in der gesamten Medizin." Die Erkenntnisse sind also nicht überraschend. Eine Schwierigkeit ist allerdings die negative Erwartungshaltung, der sogenannte Nocebo-Effekt: Manche Menschen, die Antidepressiva einnehmen, gehen davon aus, dass sie negative Symptome haben beim Absetzen. Und tatsächlich ist diese Annahme weitverbreitet in der Bevölkerung, Seifritz sieht diese aufgeheizte Diskussion kritisch: "Eine einseitig geführte Diskussion verunsichert Patientinnen und Patienten und hält sie davon ab, nützliche Behandlungen durchzuführen."

Absetzphänomene seien übrigens nicht verwunderlich. Er erklärt: "Antidepressiva verändern die Kommunikation zwischen den Nervenzellen im Gehirn, sie hemmen oder fördern gewisse Neurotransmitter wie etwa Serotonin. Dadurch passieren sehr komplexe und unvollständig verstandene neuronale Adaptationsprozesse." Das ist ein langsamer Vorgang, deshalb wirken Antidepressiva nicht sofort, sondern oft erst nach mehreren Tagen. "Setzt man sie abrupt ab, kann das vermutlich umgekehrt auch Symptome hervorrufen. Ein Ausschleichen kann das potenziell verhindern."

Kein leichtfertiger Einsatz

Seifritz weist außerdem darauf hin, dass Studiendesign und Praxis im Klinikalltag oft voneinander abweichen. "Im klinischen Alltag passt man die Dosis individuell an Krankheitsbild und Symptome an. Das ist in einem Studiendesign praktisch nicht möglich." Und noch etwas gibt er zu bedenken: "Es ist oft nicht möglich, klinisch zu unterscheiden, ob es sich um Absetzphänomene handelt oder ob die Grunderkrankung wieder auftritt, beispielsweise Depressionen."

Dass Antidepressiva nicht leichtfertig eingesetzt werden dürfen, betont Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. "Antidepressiva leisten einen wichtigen Beitrag zur Behandlung depressiver Störungen. Aber jeder Verschreibung muss eine ausführliche Aufklärung über Wirkungen, Nebenwirkungen und eben auch die Absetz-Phänomene vorausgehen. Bei leichten Depressionen dürfen sie nur äußerst zurückhaltend beziehungsweise in Einzelfällen eingesetzt werden".

Anders ist es bei einer positiven Nutzen-Risiko-Einschätzung: "Antidepressiva haben insbesondere bei schweren Depressionen und bei Depressionen mit psychotischen Symptomen, wie zum Beispiel Wahnphänomenen, einen extrem hohen Stellenwert." Auch Lieb betont, dass man die Medikamente langsam ausschleichen sollte: "Das Rückfallrisiko in eine Depression ist dann viel geringer." (Pia Kruckenhauser, 12.6.2024)