Über die Miniserie Rentierbaby redete man zuerst wegen des Inhalts und nun wegen dem, was danach wieder im echten Leben passiert ist. In der vielgepriesenen und vielgestreamten Netflix-Produktion erzählt der schottische Kabarettist Richard Gadd seine wahre Geschichte rund um eine Stalkerin und seine Erfahrungen mit sexueller Gewalt durch einen älteren Kollegen. Doch die fiktionalisierten Figuren der Serie beruhen natürlich auf echten Menschen, so hat sich ein vermeintlich ausgeforschter Täter als der Falsche herausgestellt, die mutmaßlich echte Stalkerin gibt einem kontroversen Ex-TV-Moderator ein Interview und droht Netflix mit einer Klage. Und Gadd selber bittet in einem Interview erneut darum, dass die Fans der Serie aufhören sollen, nach den Identitäten der Serienfiguren zu suchen. Aber fangen wir am Anfang an.

Die Serie Rentierbaby (im englischen Original Baby Reindeer) beginnt als Stalking-Geschichte. Donny jobbt als Kellner in einem Pub, hat aber große Ambitionen auf eine Karriere als Kabarettist. Eines Tages kommt Martha rein, übergewichtig, fahrig, irgendwie seltsam, wie sie erzählt aber eine erfolgreiche Anwältin für Reich und Schön. Donny lädt sie auf ein Getränk ein, weil sie kein Geld hat, und damit beginnt eine Geschichte von Obsession, unerwünschten Nachrichten und Stalking des "Rentierbabys" – Martha nennt Donny so wegen eines Stofftiers, das sie als Kind hatte.

Richard Gadd als "Donny" und Jessica Gunning als "Martha" treffen sich im Pub.
Ed Miller/Netflix

So weit, so klischeehaft. Der junge Mann, die etwas ältere Frau, die sich verliebt und jeden Satz so auslegt, wie es ihr grad passt, eifersüchtig wird auf Donnys Freundin und sich in sein Leben hineinwieselt, bis er umziehen muss. Rentierbaby macht nicht halt davor, sich auch mit den Unsicherheiten des Opfers auseinanderzusetzen: Waren die anzüglichen Scherze vielleicht doch zu viel an Interesse? War es wirklich so schlau, Martha auf einen Tee einzuladen? Und danach bei ihr ins Fenster zu spitzeln, weil Donny wissen wollte, wer sie ist? Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt.

Trauma als Trigger

Die zwanghaften Mails, die unerwünschte Aufmerksamkeit und das Nachstellen lösen bei Donny noch etwas ganz anderes aus: nämlich die Erinnerung an die einige Jahre zurückliegenden Erlebnisse mit einem älteren Mann, der ihm eine Karriere in der Comedy-Welt vom Himmel herunterversprochen hatte. Und ihn im gemeinsamen Drogenrausch sexuell benutzt und vergewaltigt hatte.

Das alles ist dem Serienmacher und Hauptdarsteller Richard Gadd vor einigen Jahren wirklich passiert. Und davon hat er zuvor in einem Kabarettprogramm geredet, und darauf basiert eben die Serie Rentierbaby. Wie bei so gut wie allen True-Crime-Formaten – egal ob als Podcast, Serie oder Dokumentation – stellt sich auch hier die Frage: Was macht das alles mit den echten Protagonistinnen und Protagonisten?

Selbstverständlich ist es Gadds gutes Recht, seine eigene Geschichte zu erzählen, sie – wie er selber sagt – zu fiktionalisieren. Die Figuren bis auf seine eigene seien bis zur Unterkenntlichkeit verändert worden für die Serie, sagt er in einem Interview mit GQ. Doch nicht erst seit Only murders in the building wissen wir, dass sich die geneigte Zuseherinnen- oder Zuhörerschaft damit nicht zufriedengibt. Was ist also passiert, nachdem Rentierbaby von Millionen gesehen und in x Foren diskutiert wurde? Mehr oder weniger begabte Internetdetektive haben begonnen, nach den echten Personen zu suchen, die hinter den Figuren von Rentierbaby stecken. Mit Erfolg, oder halt so etwas Ähnlichem:

Im Fall des Mannes, der Gadd vor Jahren vergewaltigt haben soll, lagen sie jedenfalls falsch. So wurde ein Regisseur bezichtigt, besagter Vergewaltiger zu sein, inklusive öffentlicher Anschuldigungen bis hin zu Morddrohungen. Gadd musste also auf Instagram ausrücken und klarstellen: Erstens ist er das nicht, und zweitens geht es ihm nicht darum. Also ums öffentliche Anprangern des Täters bzw. der Täter(in). Die Dynamik, die in Internetforen oder auf Social Media losgetreten werden kann, sorgte in diesem Fall für erneute Drohungen bis hin zu einem Verhalten, das man wohl auch als Stalking bezeichnen kann.

Die gestalkte Stalkerin

Die vermeintliche Stalkerin wurde ebenfalls ausgeforscht, von Serienfans genauso wie von Medien. Und hat sich dann sogar selbst zu Wort gemeldet, sie sei zwar vielleicht die Inspiration für die Serienfigur, streitet aber ab, Gadd mit Tausenden Mails und Nachrichten belästigt zu haben. Und nun werde sie selber von Leuten belagert, belästigt und bedroht. Egal, wie gut die wahren Personen hinter den Figuren der Serie verschleiert wurden, es war offensichtlich nicht gut genug, wenn mit wenigen Klicks die Tweets der vermeintlich echten Stalkerin gefunden werden können. Einem Journalisten der Daily Mail erklärte sie jedenfalls, sie werde ihrerseits nun Netflix klagen. Woraufhin sich der Journalist wenige Tage später zu Wort meldete und angab, die Frau belästige ihn nun mit unzähligen Mails und Anrufen. Die angebliche Stalkerin setzte sich dann noch zum kontroversen ehemaligen TV-Moderator Piers Morgan in seine Youtube-Sendung, um dort noch einmal einen skurrilen und inkonsistenten Auftritt hinzulegen. Unnötig zu sagen, dass Morgan natürlich mehrmals versucht sie vorzuführen – was ihm auch gelingt.

In einem Interview mit Hollywood Reporter weist Richard Gadd die Serienfans und abgedrifteten Hobbydetektive jedenfalls am Montag noch einmal an, mit der Suche nach den Identitäten der Figuren aufzuhören. "Hätte ich gewollt, dass die echten Personen gefunden werden, hätte ich eine Dokumentation gemacht", so Gadd in dem Interview. Und damit wird aus dem erfolgreichen True-Crime-Drama wieder eine wahre Geschichte, in der viele Fragen offen bleiben. (Daniela Rom, 14.5.2024)