Ein Hauch von Revolution liegt in der Luft in der Avenida Córdoba 2122. Hier im Universitätsviertel von Buenos Aires befindet sich die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Am Campus, einem verwinkelten Gebäude mit vielen Innenhöfen, werden die letzten Vorbereitungen für die Proteste in den kommenden Tagen getroffen. Studierende rücken Stühle für Sit-ins zusammen. Im Inneren der Uni bekunden Schilder mit der Aufschrift "Haushaltsnotlage", dass hier der Ausstand herrscht. In den Gängen ist es selbst am Nachmittag dunkel, weil die Beleuchtung abgeschaltet ist. Die Lifte sind blockiert. "Der Universität geht das Geld aus", sagt der Ökonom Andrés Musacchio, der zur Führung in seine Fakultät geladen hat. "Wir haben kaum noch Geld für Strom, darum gibt es kein Licht und keinen Lift."

Fast ein halbes Jahr ist Argentiniens Präsident Javier Milei im Amt. In den vergangenen Monaten hat er damit begonnen, einen "beispiellosen" Sparkurs durchzupeitschen, wie der Internationale Währungsfonds in einem aktuellen Bericht schreibt. Seine neue Regierung hat Zuschüsse für den öffentlichen Verkehr und den Energiesektor gekürzt. Bustickets sind doppelt so teuer wie vor einem Jahr, die Strompreise verfünffachen sich gerade. In der öffentlichen Verwaltung setzte eine Kündigungswelle ein. Den Universitäten wurde das Budget gestutzt. Sie fürchten, ab Juli keine Gehälter mehr zahlen zu können.

Milei, Ökonom, 53 Jahre, hat im vergangenen Herbst als Kandidat des Wahlbündnisses La Libertad Avanza ("Die Freiheit schreitet voran") die Präsidentschaftswahlen mit 56 Prozent der Stimmen gewonnen. Der Politiker wird in Europa als Rechtspopulist, rechtsextrem oder einfach als verrückt bezeichnet. Milei nennt sich libertär: Er steht dem Staat feindlich gegenüber, der Markt regle alles effizienter. Der Politiker fasziniert und schreckt Menschen über die Grenzen Argentiniens hinaus ab. Dazu tragen seine radikalen Ideen bei. Milei nennt sich "Anarchokapitalist". Auch sein aggressiver Stil sorgt für Aufregung. Im Wahlkampf trat er schon einmal mit Kettensäge auf, Symbol dafür, dass er das alte System niedermachen wolle. Politische Feinde schimpft er "Parasiten" oder "Drecksäcke".

Milei-Kritiker Juan Pablo Hudson mit seinem Dolmetscher beim Treffen in Buenos Aires.
DER STANDARD / Szigetvari

Die Bilanz des Präsidenten liest sich verheerend. Der Sparkurs hat die Wirtschaft abgewürgt, explodiert ist die Inflation: Im Jahresabstand stiegen die Preise um 287 Prozent. Das Land ist Inflation gewöhnt. Aber der Preisauftrieb hat sich seit Mileis Wahlsieg fast verdoppelt. Umso überraschender ist, was Kritiker des Präsidenten sagen: Viele, mit denen sich DER STANDARD im Rahmen eines Besuchs in Buenos Aires trifft, wirken ratlos. Dazu gehört etwa Juan Pablo Hudson.

Der Sozialwissenschafter schreibt für das linke politische Magazin Crisis, er ist ein erklärter Gegner des neuen Präsidenten. "Wir sind alle überrascht davon, mit welchem Tempo Milei sein Sparprogramm durchzieht", sagt Hudson. "Noch überraschender ist, dass seine Zustimmungswerte so hoch geblieben sind." Tatsächlich: Der Präsident ist in Argentinien weiter erstaunlich populär, trotz eines Sparkurses, den selbst der Währungsfonds für zu forsch hält. 48 Prozent der Bevölkerung sind mit dem Kurs Mileis laut jüngsten Umfragen einverstanden, bei Jungen liegen seine Zustimmungswerte bei über 60 Prozent. Was Juan Pablo Hudson noch mehr verwundert, ist, dass Proteste bisher weitgehend ausbleiben. Ja, an den Unis wird aufbegehrt, zehntausende Studierende gingen Ende April auf die Straße. Aber ansonsten blieb es für argentinische Verhältnisse erstaunlich ruhig.

Wie ist das möglich? Der 80-jährige Ökonom Guillermo Vitelli trifft den Besucher in einem Starbucks-Café beim Parlament. Er beantwortet die Frage so: "Ich würde Mileis Wirtschaftspolitik eine Drei geben. Aber die Vorgängerregierung bekommt eine Fünf."

Präsident übernimmt in der Krise

Was der erklärte Gegner Mileis meint: Der Präsident habe ein Land übernommen, dessen wirtschaftspolitische Probleme extrem tief reichen. Die linksgeführten, peronistischen Vorgängerregierungen, die in den vergangenen 20 Jahren mit einer Unterbrechung (2015 bis 2019) durchregierten, haben eine desolate Wirtschaft hinterlassen.

Um den Anstieg der Preise abzudämpfen, hat die Vorgängerregierung teure Subventionsprogramme auf den Weg gebracht, etwa um Energie billig zu halten. Das Ganze hat den Staat Milliarden gekostet. Die Inflation wurde damit nicht gestoppt, nur gedämpft. Die Löhne konnten mit dem Preisanstieg nicht mithalten. Die Währungspolitik war sowieso ein Chaos: Um die Inflation nicht noch weiter anzufachen, war die argentinische Landeswährung Peso bis Ende 2023 überbewertet. Die Notenbank kaufte einen Dollar für rund 350 Peso. Niemand wollte zu diesem Kurs Geld tauschen, am Schwarzmarkt kostete ein Dollar um die 1000 Peso. Das sorgt dafür, dass Importe, etwa von Erdöl, billiger blieben. Die Folge war aber, dass argentinische Exporteure ihre im Ausland verdienten Dollar nicht heimholten. Dazu kommt, dass Argentinien über die vergangenen Jahrzehnte öfter in die Staatspleite schlitterte. Das Land verfügt deshalb über ein Geflecht von Kapitalverkehrskontrollen, somit ist es schwer möglich, Geld aus dem Land ins Ausland zu schaffen. Das stabilisiert das Finanzsystem, aber zu einem Preis: Investoren meiden das Land. Sie müssen fürchten, ihr Geld nicht herauszukriegen.

Ökonom Guillermo Vitelli: Mileis Politik gibt er eine schlechte Note, die Vorgänger bewertet er noch schlechter.
DER STANDARD / Szigetvari

Milei versprach den radikalen Ausbruch aus diesem System. Er ließ den Peso abwerten und brachte den offiziellen Wechselkurs an jenen am Schwarzmarkt heran. Potenziell hilft das der Wirtschaft: Exporte werden damit im Ausland billiger, und Unternehmen haben einen stärkeren Anreiz, Dollar heimzuholen. Zugleich hat das die Inflation vor allem bei Lebensmitteln explodieren lassen. Warum? Wenn die Währung abwertet, verdienen Agrarexporteure am Weltmarkt mehr für ihr in Argentinien produziertes Getreide, Soja und Reis. Sie verlangen daher mehr, wenn sie ihre Produkte in Argentinien absetzen sollen.

Der Sparkurs soll den Haushalt sanieren und die Inflation beenden: Im libertären Weltbild sind die von der Notenbank finanzierten Staatsdefizite Ursache der Inflation.

Mehr Armut oder Aufschwung?

Sparkurse hat der 80-jährige Ökonom Vitelli schon viele erlebt. Was ist neu? Dass unklar sei, wer die Gewinner der aktuellen Politik seien. Bürger wie Konzerne verlören, weil gespart und nicht mehr investiert werde. Überhaupt sei fraglich, woher angesichts der Krise künftig Wachstum herkommen solle. Vieles an den Antworten Mileis wirkt für Ökonomen auch dogmatisch. Dass die Inflation in Argentinien schon 2023 hoch war, hat viele Gründe, angefangen bei vergangenen Währungsabwertungen, die Importe verteuern. Gelddrucken ist eben bloß eine Erklärung.

Argentiniens System war also derart dysfunktional, dass viele einen radikalen Bruch für unvermeidbar halten und Mileis Politik daher mittragen. Etwas Neues wagen. So sehen es seine Kritiker. Was sagen seine Anhänger?

Milei-Mann Eduardo Falcone glaubt an den neuen Präsidenten.
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Milei-Mann Eduardo Falcone residiert in seinem Büro gegenüber dem Parlament. Falcone gehört der Partei Movimiento de Integración y Desarrollo (Bewegung für Integration und Entwicklung) an. Er ist Teil des Milei-Blocks. Viele Reformprojekte des Präsidenten seien längst abgespeckt, weniger radikal als im Wahlkampf diskutiert, sagt Falcone. Der Peso werde nicht vom Dollar ersetzt, was Milei gefordert hat. Auch die Notenbank werde nicht abgeschafft. Sie statte Banken im Notfall mit Geld aus.

Über Geschichten, wonach Milei mit seinen Dekreten, die er immer wieder für Anordnungen nutzt, die Demokratie ausheble, kann Falcone nur lächeln: Von den 257 Abgeordneten im Parlament stellt der Milei-Block 41. Der Präsident ist auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen, braucht Kompromisse.

Gut zu beobachten war das beim ersten großen Gesetzespaket, das die Regierung vergangene Woche durch die erste Kammer des Parlaments boxte. Ursprünglich hatte das Paket 600 Paragrafen, die Hälfte musste der Präsident streichen. Was übrig bleibt, ist radikal genug: Das neue Gesetz schraubt Arbeitsrechte zurück, Schwangere müssen bis zehn Tage vor der Geburt arbeiten. Frei gemacht wird der Weg für Privatisierungen, die Post und der Energieversorger Energía Argentina dürfen verkauft werden. Daneben gibt es für Investoren Steuervergünstigungen, um sie ins Land zu locken, Kündigungen werden erleichtert. Rechtskonservative stimmten mit Milei mit.

Argentiniens Staatschef Javier Milei nennt sich selbst Anarchokapitalist, Gegner bezeichnet er schon einmal als Parasiten. Seine Politik lässt Kritiker bisher ratlos zurück. Er setzt harte Einschnitte. Nicht ganz klar ist, welche Interessen von seiner Politik profitieren. Glaubt er am Ende gar an seinen ultraliberalen Kurs?
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Gegen das Paket, das noch durch den Senat muss, regt sich Widerstand. Für den 9. Mai riefen Gewerkschaften zum Streik auf. Kann das der Auftakt zu einer Protestwelle sein? Offen ist auch, wie Mileis wirtschaftspolitisches Experiment ausgeht. Im Idealfall werden die Exporte anziehen, das Wachstum zurückkehren. Oder der alte Stillstand wird durch Chaos und Armut abgelöst. Der Sparkurs schafft mehr Arbeitslose, dazu kommen die Preisanstiege. Die Schlangen vor Sozialhilfeeinrichtungen in Buenos Aires werden länger. (András Szigetvari, 10.5.2024)