Die grüne Parteispitze hat wütend auf einen STANDARD-Bericht reagiert, in dem EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling von unterschiedlichen Personen manipulatives Verhalten und ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit vorgeworfen wurde. Seither beherrscht das Thema die politische Debatte in Österreich.

Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler verteidigte bei einer Pressekonferenz am Mittwoch seine EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling mit deftiger Wortwahl.
Heribert Corn

Frage: Worum geht es in der Recherche zu Lena Schilling?

Antwort: Der Kern der Vorwürfe betrifft Fälle, in denen Schilling mehrfach falsche Behauptungen über Dritte aufgestellt und diese damit in teils existenzgefährdende Probleme gebracht hat – oder hätte bringen können. Das erfolgte fast nur im beruflichen und politischen Kontext. Daraufhin wurde von der Redaktion eine Vielzahl von Personen, die mit Schilling zu tun hatten, kontaktiert. Die Erzählungen dieser rund fünfzig Menschen zeichneten nahezu widerspruchsfrei das Bild einer angehenden EU-Politikerin, die ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit pflegt.

Frage: Was sind die konkreten Vorwürfe?
Antwort: Schilling hat unter anderem über zwei bekannte Journalisten Gerüchte verbreitet. Einem der beiden unterstellte sie nachweislich diverse Verhältnisse mit Grünen-Politikerinnen. Im zweiten Fall kam es sogar zu einer internen Untersuchung in einem Medienhaus, nachdem die Personalabteilung informiert worden war, dass Schilling behaupte, von einem Journalisten des Unternehmens belästigt worden zu sein. Die interne Prüfung ergab, dass dem Mann kein relevantes Fehlverhalten zur Last gelegt werden kann. Nachdem Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler die Veröffentlichung des Falls als "anonymes Gefurze" bezeichnet hat, soll der Journalist einen Anwalt kontaktiert haben und prüfen, wie er gegen Schilling und womöglich auch gegen die Grünen vorgehen kann.

Frage: Wie kam es zu dem gerichtlichen Vergleich, den Schilling schließen musste?
Antwort: Schilling behauptete gegenüber mehreren Personen, Sebastian Bohrn-Mena sei gegenüber seiner Frau Veronika Bohrn-Mena gewalttätig geworden und sie habe nach einem Übergriff ihr Kind verloren. Das Ehepaar Bohrn-Mena ist gut vernetzt und nicht unumstritten. Rund um ihre gemeinnützige Stiftung Común arbeiteten sie mit Schilling zusammen. Die Grünen sagen nun, Schilling habe sich "Sorgen um eine enge Freundin" gemacht und die Behauptungen in diesem Kontext getätigt. Veronika Bohrn-Mena erklärte dazu auf X: "Warum Lena diese furchtbaren Vorwürfe frei erfunden hat, weiß sie selbst. Ich weiß es auch, und es hatte nichts mit Sorge um meine Familie zu tun." Schilling habe Freunden etwa erzählt, Zeit mit Bohrn-Mena zu verbringen, war dann aber nicht bei ihr.

Frage: Wie reagierten die Grünen auf die Veröffentlichung der Vorwürfe?


Antwort: Die Grünen haben Dienstagnacht eilig eine Pressekonferenz für Mittwochfrüh einberufen, bei der die Parteispitze und Lena Schilling vor die Medien traten. Die Führungsriege der Grünen bekräftigte, hinter ihrer EU-Spitzenkandidatin zu stehen. Die Parteispitze sprach von "anonymem Gefurze", Sexismus und einer "organisierten Kampagne", deren Urheber jedoch nicht benannt werden konnten. Die Vorwürfe gegen Schilling wurden nicht dementiert. Die Grünen-Politikerin Kati Schneeberger, bei der EU-Wahl auf Listenplatz sieben, schrieb auf X: "Diese Verteidigung unmoralischen und mutmaßlich rechtswidrigen Verhaltens steht für mich im Gegensatz zu sauberer Politik." Sie bleibt vorerst die einzig offen kritische Stimme. Parteiintern soll es hingegen viele Kritiker an der Vorgehensweise der Führung geben.

Frage: Geht es, wie von der Grünen-Spitze behauptet, um das Privatleben Lena Schillings?
Antwort: Fast alle Vorwürfe, über die DER STANDARD berichtete, haben einen politischen oder beruflichen Kontext. Lediglich die Vorgeschichte zur gerichtlichen Unterlassung, die Schilling unterschreiben musste, hat sich in ihrem privaten Umfeld abgespielt; rund um ihre ehemals enge Freundin Bohrn-Mena.

Frage: Warum äußern sich die anderen Betroffenen nur anonym?
Antwort: Niemand, der in der Recherche zitiert oder dessen Informationen verarbeitet wurden, ist anonym, sondern dem STANDARD bekannt. Mandatare und Funktionäre der Grünen fürchten Sanktionen durch die Parteispitze – etwa fehlende Unterstützung in den anstehenden Wahlkämpfen. Tatsächlich soll sich die Klubleitung am Dienstag primär mit der Frage beschäftigt haben, wer interne Chats an den STANDARD weitergegeben hat.
Betroffene Journalisten haben vor allem Sorge um ihre Integrität. Die Identitäten anderer Betroffener wurden anonymisiert, um sie nicht vor einer breiten Öffentlichkeit mit falschen Belästigungsvorwürfen oder mutmaßlich angedichteten Affären in Verbindung zu bringen.
In der Klimaschutzbewegung wiederum ist der Einfluss der Grünen groß. Teils minderjährige Personen aus der Bewegung, etwa aus dem von Schilling mitgegründeten Jugendrat, warfen Schilling vor, ihr Vertrauen missbraucht und sie gegeneinander ausgespielt zu haben. Sie haben Sorge, mit Vorwürfen gegen Schilling ihre berufliche Zukunft zu gefährden. Bestätigt sehen sie sich durch die Reaktion der Grünen: Die grüne Parteispitze bezeichnete die Vorwürfe als "hemmungslos" und Teil einer "gesteuerten Kampagne".

Frage: Nimmt DER STANDARD andere in der Spitzenpolitik nicht so genau unter die Lupe?
Antwort: Vor einem Jahr berichtete DER STANDARD, dass sich der blaue EU-Spitzenkandidat Harald Vilimsky angeblich böse Geister durch einen Schamanen vertreiben ließ – ganz zu schweigen von intensiver Berichterstattung über strafrechtliche Vorwürfe, die Vilimsky in der Spesenaffäre gemacht werden. Berichtet wurde, als Neos-Kandidat Helmut Brandstätter einen ÖVP-Politiker als "gschissenes Arschloch" titulierte. Bereits ein Jahrzehnt ist es her, als öffentlich darüber diskutiert wurde, dass der Sohn des ÖVP-EU-Kandidaten Reinhold Lopatka an einer rechtsextremen Demo teilgenommen habe. Der Spiegel befragte Lopatka auch zu seinem Bruder, der seine Kinder gequält haben soll und verurteilt wurde. Dass Sebastian Kurz (ÖVP) in Chats seinen Vorgänger Reinhold Mitterlehner als "Arsch" bezeichnete, war weder strafrechtlich noch sachpolitisch relevant, aber von öffentlichem Interesse. Bei Hans Peter Doskozil (SPÖ) wurde diskutiert, ob er trotz gesundheitlicher Stimmprobleme Kanzler werden könnte.
All diesen Fällen ist gemein: Volksvertreterinnen und Volksvertreter werden daran gemessen, ob das, was sie öffentlich fordern, auch mit ihren Auftritten als Mensch zusammenpasst. Das schulden sie ihren Wählern.

Frage: Wie geht es jetzt weiter?
Antwort: Zahlreiche Politologinnen und Meinungsforscher denken, dass die Causa für die Grünen noch nicht ausgestanden ist. Der Politikberater Thomas Hofer sprach in der ZiB 2 davon, dass Teile der Vorwürfe zwar Schillings persönlichen Lebensbereich beträfen, der Vorwurf des "strukturellen Lügens" aber politische Relevanz habe. "Die Persönlichkeit steht bei Politikern immer im Vordergrund", erklärte die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle in der Kronen Zeitung. „Die Grünen sollten die Sache ernster nehmen. Es braucht mehr Erklärung, um Glaubwürdigkeit zu demonstrieren.”

Der Politikberater Peter Hajek sagte in "Newsflix": "Es geht ja in diesem Fall nicht darum, ob sie irgendeinen Schokoriegel hat mitgehen lassen. Sexuelle Belästigung ist für die Grünen ein relevantes Themenfeld, egal ob vermeintliches Opfer oder vermeintlicher Täter." (Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 9.5.2024)