Während einer Ausbildung schätzt man oft den Wert dessen, was man zu lernen hat, deutlich zu niedrig ein. Mir ging es jedenfalls gerade so: Quasi aus dem Nichts heraus kam ich in den Genuss, mich mit modernen Bowlingbällen (und ja, es sind Bälle, keine Kugeln) zu beschäftigen. Nicht, dass ich ein großer Bowler wäre, im Gegenteil, das würde dem Klischee des theoretischen Physikers erheblich schaden. Vielmehr ging es um die inneren Werte: jene der Bowlingbälle, nicht des Physikers. Bei meiner Recherche wurden mir dann aber einige Zusammenhänge aus dem Studium klar, die ich den Lesern und Leserinnen nicht vorenthalten möchte.

Über rotierende Körper

Rotierende, ausgedehnte Körper gehören mit zu den verwirrendsten Themen, die einem im Physikstudium begegnen, und man ist sehr schnell froh, wenn man damit nicht mehr viel zu tun hat. Man hat mit Kräften zu tun, die in Wirklichkeit eigentlich keine Kräfte sind (Flieh- und Corioliskraft), und sobald sich der Körper nicht mehr um seinen Schwerpunkt dreht, wird es nochmals komplizierter. Nichtsdestotrotz wollen wir der Sache etwas auf den Grund gehen. Eine sehr wichtige Eigenschaft von rotierenden Körpern ist das Trägheitsmoment. Es ist eine Größe, die beschreibt, wie leicht ein Objekt in Rotation gebracht werden kann. Je größer das Trägheitsmoment, desto mehr Energie muss aufgewandt werden, um den Körper in Rotation zu versetzen. Hierbei ist aber nicht nur die Masse, sondern auch deren Verteilung von entscheidender Bedeutung.

Rotation, Präzession und Nutation eines Kreisels.
A. Navarro-Quezada/D. Kreil

Denken wir an einen Kreisel, der zum Rotieren gebracht wird. Die Drehachse eines symmetrischen Körpers liegt normalerweise entlang der Symmetrieachse – einer vertikalen Linie entlang dessen Mittelpunkt. Würden keine weiteren Kräfte, außer der Rotationskraft, auf den Körper wirken und würde es keinen Luftwiderstand und keine Anziehungskraft geben, so würde (theoretisch!) der Körper für ewig dahin rotieren. Da es aber in der Realität nicht so ist, wirken auf einen rotierenden Körper zusätzliche Kräfte in Form eines Drehmoments, und so beginnt die Drehachse zur Seite auszuweichen. Dieses Phänomen ist als Präzession bekannt und führt dazu, dass die Drehachse zu einem Kegel wird. Wirkt eine zusätzliche Kraft auf die Drehachse, so fängt diese zu taumeln an (rumzueiern). Das ist bekannt als Nutation. Eine bildliche Darstellung der Rotation, Präzession und Nutation ist oben im Bild zu sehen.

Für alle, die bis hierhin durchgehalten haben: Was hat das nun mit Bowlingbällen zu tun? Hingegen meiner naiven Annahme sind diese Ungetüme nicht einfach nur schwer, rund und haben drei Löcher, nein, die Profivarianten haben es ganz schön in sich. Sie sind im Inneren mit unförmigen Gewichten ausgestattet. Das hat nicht nur den Effekt, die Asymmetrie auszugleichen, die durch das Bohren der Löcher für Zeige-, Mittelfinger und Daumen entsteht. Auch die angesprochenen Effekte wie Trägheitsmoment, Nutation und Präzession werden von Bowler und Bowlerinnen schamlos ausgenutzt. Es ist ja das eine, diese Effekte zu verstehen, aber sie im Alltag auch nützen zu können ist die wahre Kür!

Bei nichtsymmetrischen Objekten, wie zum Beispiel einer Kartoffel, ist das mit der Drehachse nicht ganz klar. Rotiert man diese Körper, hängt es nun davon ab, um welche Achse und mit welcher Geschwindigkeit das passiert. Erwischt man die Achsen mit dem größten oder dem kleinsten Trägheitsmoment, hat man Glück gehabt, weil diese sich durch eine stabile Bewegung auszeichnen. Liegt die Rotationsachse aber dazwischen, so hat man Nutation. Wer diese Bewegungen genauer verstehen möchte, kommt um die sogenannten Eulergleichungen nicht umhin. Ein System aus drei gekoppelten, nicht linearen Differenzialgleichungen! Klingt doch wunderschön, oder?

Bowlingbälle, Astrologie und die moderne Medizin

Profis versuchen die Pins am Ende der Bahn nicht möglichst geradlinig zu treffen. Vielmehr wird ein bogenförmiger Verlauf angestrebt, der das Ziel in einem idealerweise sechs Grad Winkel von der Seite trifft. Bowlingbälle mit kleinem Trägheitsmoment können mit dem gleichen Kraftaufwand in schnellere Rotation versetzt werden. In den ersten zwei Dritteln der Bahn, die geölt ist, gleitet der Ball dahin, während er sich schnell um eine Achse dreht. Im hinteren Teil geht die Bewegung in eine rollende über und der Ball schlägt hier einen Haken (engl. Hook). Nutation und Präzession werden nun dafür genutzt, dass in der Hook-Phase möglichst wenig Öl zwischen Ball und Bahn ist, und der Haken stärker ausgeführt wird. Bei einem korrekt geworfenen Bowlingball findet man eine Sequenz von Schlieren, die versetzt zueinander am Ball entlangwandern (sogenannte track flares), ein Effekt, der mit einem normalen Ball nicht möglich wäre! Das wird in diesem Video, in dem ich mitmachen durfte, gut sichtbar.

Eine andere asymmetrische Kugel, die in unserem Leben eine wichtige Rolle spielt, ist die Erde. Zwar scheiden sich immer noch so manche Geister, ob sie nun rund oder doch eine Scheibe ist, als Physiker muss ich sagen: Sie gleicht eher einer leicht abgeflachten Kartoffel. Wie auch beim Bowlingball sorgt diese ungleiche Massenverteilung für eine Nutation, also ein Wackeln der Erdachse. Diese hat mehrere Perioden, wobei die kürzere (ca. 14 Monate) durch den Amerikaner Seth Carlo Chandler entdeckt wurde. Die Messung der längeren Periode (ca. 18,6 Jahre) gelang dem britischen Astronom James Bradley im 18. Jahrhundert. Zusätzlich zerren an der Erde noch Sonne, Mond und die restlichen Planeten, wodurch eine Präzessionsbewegung hervorgerufen wird. Diese ist zwar in ihrem Effekt am stärksten, jedoch hat sie auch die längste Periode. Nur alle 25.800 Jahre kehrt die Erdachse wieder zur selben Position zurück. Derzeit zeigt sie relativ genau in Richtung des Polarsterns.

Diese starke Drehung ändert auch die scheinbaren Positionen aller Himmelskörper, und so auch der Sternzeichen. Das haben schon die antiken Griechen durch Vergleichen alter Sternenkarten bemerkt. So verschieben sich die Sternbilder, in denen die Sonne in den entsprechenden Monaten steht, um circa eine Position alle 2000 Jahre. Das hat den Effekt, dass die uns vermeintlich zugeschriebenen Sternzeichen nichts mehr mit der heutigen Himmelsmechanik zu tun haben. Wer bis dato im Horoskop in der Sparte Stier nach seinem Liebesglück gesucht hat, sollte sich besser von den Widdern beraten lassen, oder am besten gleich zum Wissenschaftsteil weiterblättern!

Astrologische Uhr.
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Alle, die sich nicht von einem Horoskop die inneren Werte eines Menschen zeigen lassen möchten, greifen am besten zu einem Magnet-Resonanz-Tomografen (MRT). Ein aus der modernen Medizin nicht mehr wegzudenkendes abbildendes Verfahren, das auch auf einen ähnlichen Effekt zurückgreift wie unsere Bowlingprofis.

Den sogenannten Spin von Wasserstoffkernen im menschlichen Gewebe kann man sich als Rotationsachse der Elektronen vorstellen, die entweder nach links oder nach rechts rotieren können. Durch Anlegen von starken magnetischen Feldern werden alle Rotationsachsen in der Richtung des angelegten Magnetfeldes ausgerichtet. Ein zusätzliches hochfrequentes Magnetfeld erzeugt die notwendige Kraft, um die Spins aus ihrer Hauptlage zu kippen und in eine Präzessionsbewegung zu führen. Wird das hochfrequente Feld wieder abgeschaltet, kehren die Spins langsam in ihre Ausgangslage zurück. Misst man diese Relaxationszeit, also die Zeit, bis die Spins wieder in die Ausgangslage zurückkehren, kann auf die Art des umliegenden Gewebes rückgeschlossen werden. Vereinfacht gesagt, dauert das beispielsweise in Tumorgewebe länger als in Muskelgewebe und ist dadurch im MRT-Bild klar sichtbar. Die Funktionsweise eines MRT ist natürlich in der Realität deutlich komplexer, jedoch hat das Prinzip mehr mit löchrigen, bunten Kugeln gemeinsam, als man auf den ersten Blick glauben mag! (Dominik Kreil, 7.5.2024)