András Pethő ist Mitbegründer des investigativen Nonprofitmediums Direkt36. Sie berichten auf Ungarisch und Englisch über Missstände, Zensur und Korruption in Ungarn. Die großangelegten Recherchen von Direkt36 sind ein Gegenpol in der vorwiegend gleichgeschalteten Medienlandschaft Ungarns. Pethő war an den Recherchen in sachen Panama Papers sowie Pegasus-Skandal beteiligt. Beim internationalen Journalismusfestival in Perugia sprach er im Interview über die Wirkungsweisen moderner Propagandamedien am Beispiel seines Heimatlandes Ungarn sowie über seine Arbeit als Investigativjournalist.

András Pethő (Direkt 36)
"Die heutige Situation für Journalisten und Journalistinnen in Ungarn ist schlimm. Es ist aber noch nicht so restriktiv wie zum Beispiel in Russland oder in der Türkei", sagt Investigativjournalist und "Direkt36"-Gründer András Pethő.
IJF Andrea Marchi

"Ich fürchte, es wird noch schlimmer, bevor es besser werden kann"

STANDARD: Sie haben für die ungarische Nachrichtenseite Origo gearbeitet, bevor diese, wie auf der Website von Direkt36 zu lesen ist, zu einem "Propagandaorgan der Regierung" wurde. Wie haben Sie diesen Umbau erlebt?

Pethő: Ich war nicht direkt dabei. Ich verfolgte das Ganze zunächst als Reporter, aber bald nur noch als Leser. Beim ersten Anzeichen politischer Einflussnahme auf unsere Berichterstattung bin ich gegangen. Das war 2014, als ich und die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen kündigten. Der damalige CEO und das Management von Origo baten uns, Recherchen über die hohen Reisespesen eines Regierungsbeamten zu stoppen. Wir hörten nicht auf, und so wuchsen die Spannungen in der Redaktion. Also entschloss ich mich, Origo zu verlassen. Ab diesem Zeitpunkt fanden drastische Veränderung statt. Seither ist Origo im Grunde ein Propagandamedium der Regierung geworden. Es hat nichts mit der Art von Journalismus zu tun, die meine KollegInnen und ich gemacht haben und die sich die Gründer von Origo vorgestellt haben.

STANDARD: Nach Ihrer Kündigung haben Sie "Direkt36" mitbegründet.

Pethő: Wir hatten keinen Job mehr und mussten deshalb überlegen, was wir tun wollten. Der ehemalige Chefredakteur von Origo, der ebenfalls gezwungen wurde, seinen Job zu verlassen, ein weiterer Kollege und ich begannen dann schon bald an Direkt36 zu arbeiten. Wir sammelten Spenden und konnten so Anfang 2015 mit unserer ersten Veröffentlichung beginnen.

STANDARD: Wie ist die Situation für investigative Medien wie "Direkt36" in Ungarn heute?

Pethő: Es ist nicht einfach. Es ist aber möglich, investigativ zu arbeiten. Wir sind das lebende Beispiel dafür. Es ist allerdings extrem schwer, von der Regierung Informationen zu bekommen. Sie ignorieren routinemäßig unsere Fragen oder antworten uns nur in leeren Phrasen. Um an öffentliche Unterlagen der Regierung zu kommen, müssen wir fast immer klagen. Das ist ein wirklich langwieriger Prozess. Oft sind wir als unabhängige Journalistinnen und Journalisten auch Zielscheibe der staatlichen Propaganda. Das ist das Umfeld, in dem wir arbeiten.

STANDARD: Werden Sie aufgrund Ihrer Arbeit als Journalist bedroht oder angefeindet?

Pethő: Zwei meiner Kollegen wurden mit dem Pegasus-Spionageprogramm überwacht. Sie standen monatelang unter Beobachtung. Das haben wir durch eine Recherche erfahren, an der wir beteiligt waren. Propagandistische Angriffe sind auch nicht angenehm, und mit Klagen haben wir ebenfalls zu tun. Aber wir haben gute Anwältinnen und Anwälte, die sich damit befassen. Physische Gefahr haben mein Team bei Direkt36 und ich noch nicht erlebt. Die heutige Situation für Journalisten und Journalistinnen in Ungarn ist schlimm. Viel schlimmer noch als vor zehn oder 15 Jahren. Es ist aber in Ungarn noch nicht so restriktiv wie zum Beispiel in Russland oder der Türkei.

STANDARD: Wie hat sich Propaganda im Vergleich zu früher verändert?

Pethő: Ich bin alt genug, um mich an die Zeit zu erinnern, als es in Ungarn nur staatlich kontrollierte Medien gab. Ich war ein kleines Kind während des Sozialismus. Ich denke, für die Propaganda damals war es leichter, weil es einfacher war, die Medienplattformen und die Informationskanäle zu kontrollieren. Jetzt scheint es schwieriger zu sein, denn natürlich kontrolliert Orbán weder Facebook noch Google. Aber die Regierung kann unglaubliche Mengen an Geld, öffentliche Gelder, für diese Plattformen ausgeben und so dafür sorgen, dass ihre Propaganda dort verbreitet wird. Propaganda zu verbreiten ist heute vielleicht also komplizierter als damals. Wenn man aber die finanziellen Mittel hat, kann man seine propagandistischen Ziele immer noch erreichen.

STANDARD: In welcher Form sind Menschen in Ungarn heute Propaganda ausgesetzt?

Pethő: Es ist unmöglich, sich der Propaganda zu entziehen. Selbst wenn man diese Propagandazeitschriften nicht liest oder die Propagandakanäle im Fernsehen nicht ansieht. Wenn ich mir zum Beispiel ein Fußballspiel im Fernsehen ansehe, ist der einzige Kanal, auf dem man es sehen kann, der öffentlich-rechtliche Sender. In der Halbzeit gibt es dann einen einminütigen Nachrichteneinschub, der Propagandabotschaften enthält. Wenn man in ländlichen Gegenden mit dem Auto fährt und Radio hört, ist es auch schwierig. In Budapest kann man noch Radiosender finden, die unabhängig und nicht Teil der Propagandamaschine der Regierung sind. Auf dem Land ist das allerdings wirklich schwer. Selbst wenn es nur ein Musiksender ist, gibt es zu jeder vollen Stunde Nachrichten, die von der regierungsnahen Nachrichtenagentur geliefert werden. Es sind also propagandistische Nachrichtensendungen.

STANDARD: Welche Narrative werden in diesen regierungsnahen Medien bedient?

Pethő: Ein Beispiel: Ungarn hat in den letzten Jahren die höchste Inflation in Europa erlebt. Die Propaganda hat den Menschen, oder zumindest Teilen der Bevölkerung, weisgemacht, dass der Grund dafür der Krieg in der Ukraine ist. Dass die Inflation wegen des Krieges so hoch ist. Es spielt keine Rolle, dass die Inflation in Wirklichkeit schon vor dem Krieg begonnen hat. Das sind die Botschaften, mit denen die Menschen durch die Propaganda bombardiert werden, und das scheint zu funktionieren. Die Regierung ist immer noch sehr beliebt. Trotz jahrelanger wirtschaftlicher Schwierigkeiten und rekordverdächtiger Inflation.

STANDARD: Welche Möglichkeiten hat investigativer Journalismus gegenüber Propaganda?

Pethő: Ich glaube immer noch an die Macht von großen, ambitionierten Geschichten. Ich war Teil der Recherchen, die den Pegasus-Skandal aufdeckten. Wir haben die geheime Überwachung der Regierung von Journalistinnen, Oppositionspolitikern und regierungskritischen Geschäftsleuten öffentlich gemacht. Die Recherche hat die Regierung erschüttert. Sie waren wochenlang in der Defensive, mussten sich aber erklären. Ein jüngeres Beispiel ist die ungarische Präsidentin Katalin Novak, eine Verbündete von Viktor Orbán. Journalistinnen und Journalisten haben aufgedeckt, dass sie heimlich eine Person begnadigt hatte, die in ein pädophiles Verbrechen verwickelt war. Sie war also die Komplizin eines verurteilten Pädophilen. Das war ein so großer Skandal, dass selbst die staatliche Propaganda nicht in der Lage war zu verhindern, dass sich die Geschichte überall ausbreitete. Die Berichterstattung führte schließlich zum Rücktritt der Präsidentin.

STANDARD: Ist investigativer Journalismus Ihrer Meinung nach das Mittel gegen moderne Propaganda?

Pethő: Nein, investigativer Journalismus allein wird nicht ausreichen, um Propaganda zu bekämpfen. Aber ich denke, er ist ein wichtiges Instrument dagegen. Ich bin nicht klug genug, um herauszufinden, wie man mit der Desinformation und der Propaganda umgehen soll. Ich fürchte aber, dass es noch schlimmer werden wird, bevor es besser werden kann. Angesichts des Aufstiegs von Künstlicher Intelligenz bin ich aber nicht sehr optimistisch. (Lilian Wassermair, 25.4.2024)

IMPULSE FÜR DEN ORF VII: Wie Orbán den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaperte - Krisztina Rozgonyi
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