Renate Rohrmüller an einer Straßenbahn-Haltestelle
Bei der Fahrt in die Arbeit muss Renate Rohrmüller keine Fahrpläne lesen. Sie kennt den Weg.
Regine Hendrich

Es gibt zahlreiche Gründe, warum es Menschen schwerfallen kann, Texte in Standardsprache zu verstehen. Um zu verdeutlichen, wie sich ein klassischer journalistischer Text von einem in einfacher Sprache unterscheidet, finden Sie hier dieselbe Geschichte in zwei Versionen vor.

Standardsprache

Komplizierte Sätze nennt Renate Rohrmüller "verrückt", Akademikersprech ist für sie "Hochdeitsch". Die 41-Jährige hat Lernschwierigkeiten, der Umgang mit Texten in Standardsprache bereitet ihr oft Mühe. Es fällt ihr schwer, sie zu verstehen. Wie geht sie mit dieser Hürde um?

Oft ist es nicht der Inhalt, sondern die Schriftgröße, die Rohrmüller vor Probleme stellt. Als sie bei einem Treffen mit dem STANDARD in Wien an einer Supermarktkassa wartet, entdeckt sie ein Pokémon-Magazin. Nach raschem Durchblättern stellt sie dem Heft ein positives Urteil aus: viele Bilder, große Schrift. "Das versteht jeder Mensch." Dass die Zielgruppe des Magazins eigentlich Kinder sind, stört sie überhaupt nicht: "Jeder Mensch ist ein Kind." Und außerdem mag Rohrmüller Pokémon. An ihrer Tasche baumelt auch das wohl berühmteste: Pikachu.

Breite Zielgruppe

Die Zielgruppe für Angebote in vereinfachter Sprache ist groß, erklärt Doris Becker von Capito Wien – einer Übersetzungsagentur, die Texte von Kunden wie etwa den Wiener Linien vereinfacht. "Da geht es nicht nur um Menschen mit Lernschwierigkeiten, für die es ursprünglich entwickelt wurde." Diese Gruppe wurde früher oft "Menschen mit geistiger Behinderung" genannt, was jedoch von vielen Leuten als abwertend empfunden wird. Jedenfalls ist die Zielgruppe deutlich größer: Menschen, denen Screenreader vorlesen. Menschen, die Gebärden- und Schriftsprache nutzen. Ältere Menschen. Menschen mit geringen Deutschkenntnissen. Menschen mit geringem Bildungsgrad. Menschen, die nicht gut lesen können. Menschen, die sich schnell informieren möchten.

Becker ist sicher, dass diese Personen niederschwellige Texte brauchen, "damit sie teilhaben können an der Gesellschaft". Gleichzeitig geht sie davon aus, dass das Angebot nicht von allen genutzt wird – schlecht lesen zu können sei eben auch für viele mit Scham behaftet.

Frau zeigt mit dem Finger auf ein Symbol auf dem Fahrplan.
Das Symbol am Fahrplan erklärt sich für Rohrmüller nicht von selbst.
Regine Hendrich

Renate Rohrmüller stört es nicht, Freunde oder Familie um Hilfe zu bitten, etwa beim Mietvertrag. Bei Fremden koste es sie mehr Überwindung – manchmal gäbe es auf ihre Bitte nämlich ungute Reaktionen. Für den Arbeitsweg nutzt sie die Wiener Öffis, den Weg kennt sie. Wenn sie doch einmal Unterstützung beim Lesen von Schildern oder Fahrplänen braucht, ist klar, wen sie anspricht: "Ältere Damen, die sind höflich und wissen es besser."

Leicht ist nicht einfach

Wenn man möchte, könne man jeden Text in leichte Sprache übersetzen, ist Becker überzeugt. Wichtig dabei: Einfach und leicht ist nicht dasselbe. Einfache Sprache folgt keinen strengen Vorgaben und entspricht etwa Sprachniveau B1. Zum Vergleich: Dieses Level sollte man an einer AHS nach vier Jahren Unterricht bei der Französischmatura haben. Leichte Sprache dagegen ist vergleichbar mit A1 oder A2 und hat ein genaues Regelwerk. Dieses umfasst etwa Wortwahl, Satzbau, Inhalt, Schriftbild und Layout. Ein Beispiel: Das Fremdwort "Ressource" würde Becker streichen oder erklären.

Viele Texte, die Capito vereinfacht, werden am Ende von Menschen aus den Zielgruppen geprüft. So wird klar, wo noch nachgebessert werden sollte. Rohrmüller ist Mitglied dieser Prüfgruppe und schaut immer zuerst auf die Schriftgröße. "Ich denke beim Überprüfen auch an andere Menschen, die mehr Probleme beim Lesen haben als ich", sagt sie.

Geprüfter Standard

Als sie eine Ausgabe des STANDARD in Händen hält, findet sie die Größe der Buchstaben nur beim Logo gut lesbar. Wörter wie "Bioquote" und "Mensen" stören Rohrmüllers Lesefluss. Trotzdem lese sie hin und wieder online verschiedene Medien. Was ihr bislang entgangen ist: Auf der Nachrichtenseite des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ORF) gibt es täglich mehrere Meldungen in einfacher Sprache, an denen eine inklusive Lehrredaktion mitarbeitet. Auch auf anderen Kanälen bietet der ORF Nachrichten in einfacher Sprache an. Wie stark das Angebot tatsächlich genutzt wird, kann man auf Anfrage nicht beziffern.

Beim österreichischen Onlinemagazin andererseits sind journalistische Beiträge in einfacher Sprache die Regel. Denn: An ihnen arbeiten Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten mit. Journalismus solle alle Personen befähigen, "informierte Entscheidungen" zu treffen, betont die Chefredakteurin von andererseits.

Mord in kleinen Lettern

Renate Rohrmüller liest auch gerne Bücher, am liebsten solche, deren Inhalt sie bereits aus Krimiserien oder Fantasy-Filmen kennt. Das erleichtert ihr das Verstehen. Von den Krimiromanen zur Serie "Castle" etwa besitzt sie mehrere Teile. Der erste Band liegt griffbereit auf ihrem Nachtkästchen. Er ist zwar weder einfach formuliert, noch in großer Schrift verfasst – aber wenn sie sich konzentriere, dann könne sie den Text lesen, sagt Rohrmüller.

Überhaupt habe sie sich in puncto lesen und schreiben verbessert, seit sie Teil der Prüfgruppe bei Capito ist. Zur Demonstration nimmt sie ein Buch in einfacher Sprache zur Hand: Sie liest melodisch, fehlerfrei. Am Ende eines jeden Satzes hebt oder senkt sie ihre Stimme. Manchmal hält sie inne, blickt über den Buchrand und vergewissert sich, dass ihr noch zugehört wird. Sie liest so lange laut vor, bis sie über das Wort "Nebelkrähe" stolpert. Was das sei, fragt sie.

Kein klassisches Publikum

Das Angebot an Literatur in vereinfachter Sprache am deutschsprachigen Buchmarkt ist sehr überschaubar. Zwar spezialisieren sich vereinzelt deutsche Verlage schon seit Jahren darauf, ein fixer Platz in den Regalen fehlt aber noch, sagt Doreen Kuttner.

Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie den Passanten-Verlag, der vor allem Klassiker in einfache Sprache übersetzt: "Der Schatz der Weltliteratur ist so groß. Es wäre schade, wenn manche Menschen keinen Zugriff darauf haben." Nur: wie lassen sich mehrere Hundert Seiten Moby Dick auf 80 vereinfachte Seiten verkürzen? Wichtige Formulierungen für das "Gefühl der Originalsprache" beibehalten und Passagen streichen, die zum Verstehen der Handlung nicht unbedingt notwendig sind, erklärt Kuttner.

"Wer weiß, was das heißt?"

Ob man nach einem langen Tag zu einem Roman greift, kann man sich aussuchen. Durch Behördentexte muss man sich dagegen wohl oder übel manchmal quälen. Sind auch Sie schon einmal an einem verzweifelt? "Willkommen im Club", würde Rohrmüller jetzt sagen.

Frau hält ein Handy in die Kamera
Schriftart und Schriftgröße hat Renate Rohrmüller auf ihrem Smartphone gut lesbar eingestellt.
Regine Hendrich

Capito hat schon für Behörden wie das Gesundheitsministerium übersetzt. Das sei besonders wichtig, meint Doris Becker: "Gesundheit betrifft einfach alle Menschen – da geht es wirklich um Leib und Leben." Infos über das Gesundheitssystem müssten deshalb verständlich aufbereitet werden. Sie fragt: "Nehmen wir den Begriff 'niedergelassene Ärzte': Wer weiß, was das heißt? Viele nicht."

Keine Bitte, sondern Pflicht

Rechtlich ist der Bund dazu verpflichtet, Diskriminierungen zu unterlassen und Barrierefreiheit zu garantieren, heißt es vom Österreichischen Behindertenrat. So steht es sinngemäß im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz. Das betrifft auch Homepages und Formulare. Insgesamt gibt es in Österreich mehrere Gesetze, "die einen diskriminierungsfreien Zustand für Menschen mit Behinderungen einfordern". Die Regelungen seien allerdings "teilweise nicht ausreichend konkret", kritisiert man beim Behindertenrat.

Es ist fast schon ein wenig Ironie: Ausgerechnet das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz ist ein Paradebeispiel für ein langes zusammengesetztes Hauptwort. Becker würde hier mit Bindestrichen arbeiten. Rohrmüller verfolgt beim Lesen solcher "Zungenbrecher" einen sehr praktischen Ansatz: "Da muss viel Luft rein, dann kannst du es besser lesen." (Anna Wiesinger, Christina Rebhahn-Roither, 28.4.2024)

Einfache Sprache

Renate Rohrmüller tut sich manchmal schwer, Texte in Standard-Sprache zu lesen. Sie ist 41 Jahre alt und hat Lernschwierigkeiten. In diesem Text geht es um einfache und leichte Sprache. Es geht auch darum, was Rohrmüller macht, wenn sie Texte nicht versteht.

Kleine Schrift

Meistens findet Rohrmüller die Schriftgröße zu klein. Den Inhalt versteht sie oft. Die Frau hat sich mit Journalistinnen von der Zeitung DER STANDARD getroffen. Sie waren gemeinsam in Wien unterwegs. In einem Supermarkt entdeckt Rohrmüller ein Pokémon-Heft. Es gefällt ihr. Das Heft hat viele Bilder, und die Schrift ist groß. "Das versteht jeder Mensch", sagt Rohrmüller. Das Heft ist eigentlich für Kinder gedacht. Das stört sie nicht.

Viele Menschen

Doris Becker arbeitet bei einer Übersetzungs-Agentur. Die Agentur heißt Capito Wien und macht Texte einfacher. Becker glaubt, dass viele Leute solche Texte brauchen. Warum? Damit sie zur Gesellschaft dazugehören und mitmachen können. Zum Beispiel Menschen mit Lernschwierigkeiten. Menschen, die nicht so gut Deutsch können. Oder Menschen, die nicht gut lesen können. Viele Menschen schämen sich, wenn sie nicht gut lesen können. Becker glaubt, dass manche deswegen keine vereinfachten Texte lesen.

Um Hilfe bitten

Manchmal braucht Rohrmüller Hilfe. Zum Beispiel beim Mietvertrag für ihre Wohnung. Dann fragt sie ihre Freunde oder ihre Familie. Das macht ihr nichts aus. Bei Fremden ist das anders. Die sind manchmal auch unhöflich, erzählt Rohrmüller.

Texte übersetzen

Becker glaubt, dass man alles leichter aufschreiben kann. Zwischen einfacher und leichter Sprache gibt es Unterschiede. Einfache Sprache hat keine bestimmten Vorgaben. Leichte Sprache ist noch verständlicher. Sie hat fixe Regeln.

Schon verständlich?

Capito vereinfacht viele Texte. Manche liest Rohrmüller danach. Sie sagt dann, was noch zu schwierig ist. Zuerst schaut sie immer auf die Schriftgröße. Sie denkt auch an Leute, die mehr Probleme beim Lesen haben als sie selbst. Nicht nur Rohrmüller liest Texte von Capito. Es gibt mehrere Leute, die das tun. Sie alle haben Schwierigkeiten mit Standard-Sprache.

Nachrichten

Bei der Zeitung DER STANDARD findet Rohrmüller schwierige Wörter. Zum Beispiel Bioquote. Trotzdem liest sie manchmal auf ihrem Handy verschiedene Zeitungen.

Auf der Nachrichtenseite des ORF gibt es Meldungen in einfacher Sprache. Das hat Rohrmüller nicht gewusst. An diesen Texten arbeitet eine inklusive Lehr-Redaktion mit. Inklusion heißt, dass alle Menschen mitmachen können. In der Lehr-Redaktion arbeiten Menschen mit Behinderungen. Der ORF hat auch im Radio und im Fernsehen Nachrichten in einfacher Sprache. Der ORF kann nicht sagen, wie viele Leute das verwenden.

Alle Menschen informieren

Im Internet gibt es auch ein Magazin mit dem Namen andererseits. Hier gibt es viele Texte in einfacher Sprache. Bei dem Magazin arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen. Die Chefredakteurin des Magazins findet, dass Journalismus eine Aufgabe hat: alle Menschen gut zu informieren.

Krimi-Serien und Krimi-Bücher

Renate Rohrmüller mag Krimi-Serien und Fantasy-Filme. Sie liest auch gerne die Bücher dazu. Sie hat viele Bücher zu einer Krimi-Serie, die Castle heißt. Die Texte haben keine große Schrift und sind nicht einfach geschrieben. Rohrmüller kann die Bücher lesen, wenn sie sich konzentriert.

Seit sie bei Capito Texte liest, kann sie besser lesen und schreiben. Rohrmüller zeigt es mit einem Buch in einfacher Sprache vor. Sie beginnt zu lesen. Bei dem Wort Nebelkrähe hört sie auf. Das Wort kennt sie nicht.

Seiten aus einem Buch
"Mathilde und ein Vogel namens Kafka" ist ein Buch in einfacher Sprache von Jürgen Heimlich.
Regine Hendrich

Klassiker in einfacher Sprache

Es gibt wenig Bücher in einfacher Sprache in Österreich. In Deutschland gibt es aber ein paar Verlage, die Bücher in einfacher oder leichter Sprache haben. Einer übersetzt Klassiker in einfache Sprache. Er heißt Passanten-Verlag. Doreen Kuttner arbeitet dort.

Klassiker sind alte Bücher, die Menschen immer noch gerne lesen. Ein Beispiel für einen Klassiker ist das Buch Moby Dick. Darin geht es um einen Wal. Der Roman ist im Original sehr lang. Moby Dick ist in einfacher Sprache kürzer. Wichtige Sätze und Wörter bleiben aber im Text, sagt Kuttner.

Behörden-Texte

Capito übersetzt auch Texte für Behörden. Ein Beispiel ist das Gesundheits-Ministerium. "Gesundheit betrifft einfach alle Menschen", sagt Becker. Es ist ihr wichtig, dass es einfache Informationen über das Gesundheits-System gibt. Sie fragt: "Was sind niedergelassene Ärzte?" Viele Menschen wissen es nicht.

Was steht im Gesetz?

Für Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt es oft Barrieren. Barrieren sind Hürden. Für Menschen im Rollstuhl sind das zum Beispiel Stufen. Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist das zum Beispiel schwierige Sprache. Diese Menschen werden auch oft anders und schlechter behandelt. Das nennt man Diskriminierung. In Österreich gibt es Gesetze gegen Diskriminierung und Barrieren. Die Regeln sind aber noch nicht genau genug, sagt der Österreichische Behindertenrat.

Ein Gesetz heißt Bundes-Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz. Für Renate Rohrmüller ist das lange Wort ein Zungenbrecher. Sie gibt einen Tipp: "Da muss viel Luft rein, dann kannst du es besser lesen." (Anna Wiesinger, Christina Rebhahn-Roither, 28.4.2024)

Hinweis: Diese vereinfachte Version wurde von der Übersetzungsagentur Capito gegengelesen.