Ein Flüchtlingslager im Libanon.
Ein Flüchtlingslager im Libanon.
AP

Als der in den Libanon geflüchtete palästinensische Syrer Amin A. am Wochenende das Video sah, konnte er es zunächst kaum glauben. Die bisher nicht verifizierten Aufnahmen, die in den sozialen Medien kursieren, zeigen einen im Libanon entführten Syrer, der nackt mit Stromkabeln gefoltert wird.

"Dass ein Flüchtling von einem gewalttätigen Mob mitten in der Hauptstadt Beirut entführt und gefoltert wird, habe ich bisher nicht für möglich gehalten", sagt der 26-jährige Fotograf erschüttert dem STANDARD und spricht von einem neuen Ausmaß der Gewalt und Hetze gegen Syrer im Libanon – insbesondere gegen jene, die am Existenzminimum unter schwersten Bedingungen leben.

Auch er, der sich in gebildeten Kreisen einigermaßen integriert fühlt, habe inzwischen gelegentlich Sorge um die eigene Sicherheit. Verbale Anfeindungen habe er ebenfalls jüngst offen erlebt, etwa im Taxi, sagt Amin A., der seit Monaten eine massive Vergiftung des öffentlichen Diskurses wahrnimmt. Er verweist auf Politiker und öffentliche Persönlichkeiten aller Couleur, die immer häufiger und enthemmter syrische Flüchtlinge im Land anprangern und als Sündenböcke für die Probleme und die Kriminalität im Land missbrauchen – ohne entsprechende Vorwürfe mit Zahlen zu belegen.

Ein weiteres Beispiel, das Amin A. ständig im Alltag begegnet: Mit einer Plakatkampagne, die durch öffentliche Gelder mitfinanziert wurde, wird auf Postern im ganzen Land über den "Schaden" durch die Syrer hergezogen, die zur Rückkehr in das gefährliche Bürgerkriegsland aufgefordert werden – ungeachtet der Tatsache, dass Menschenrechtsorganisationen unzählige Folterfälle zurückgekehrter Syrer dokumentiert haben.

Mord an Politiker

Doch insbesondere seit der christliche Politiker Pascal Sleiman vor wenigen Wochen entführt und ermordet wurde, ist die Lage für Syrer im Libanon besonders angespannt. Die Hintergründe der Tat sind noch ungeklärt, doch verübt wurde sie nach offiziellen Erkenntnissen von syrischen Gangmitgliedern. Seither nehmen die Verbalattacken und Gewaltübergriffe auf Syrer rasant zu. Unzählige Flüchtlinge wurden laut Berichten verbal attackiert oder verprügelt, ein weiterer Mann gar laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte gefoltert und ermordet. Die Verantwortlichen kämen dagegen straffrei davon.

Die libanesische Tageszeitung Orient Today fühlte sich in den Tagen nach der Ermordung von Sleiman im Ansatz an die antisemitischen Novemberpogrome 1938 erinnert. In Hassnachrichten wurden Syrer von undurchsichtigen lokalen Vereinen dazu aufgerufen, mehrere vorwiegend christliche Viertel zu räumen. Andernfalls seien sie der Ungnade der libanesischen Anrainer ausgeliefert, wurde darin gedroht.

Ausgangssperren und Pushbacks

Anstatt rassistische Hetze und Gewalttaten zu verurteilen, haben die Behörden ihre Gangart gegenüber Syrern verschärft: Etliche Gemeinden verhängten Ausgangssperren, veranlassten Zwangsschließungen von Geschäften, die von Syrern betrieben werden, und erhöhten die Gebühren für Aufenthaltsgenehmigungen signifikant. Zudem wird schon länger von illegalen Pushbacks nach Syrien berichtet. Hinzu kommt seit kurzem auch, dass keine abgeschobenen Syrer mehr aus Zypern zurückgenommen werden, wie das ein Abkommen von 2020 vorsieht.

All das sorgt auch in Europa für große Sorgen. Immerhin verzeichnet man im EU-Staat Zypern rasant steigende Flüchtlingszahlen von Syrern, die per Boot aus dem Libanon den Inselstaat erreichen. Seit Jahresbeginn sind nach zypriotischen Angaben 4000 Ankömmlinge verzeichnet worden – im Vergleich zu 78 im ersten Quartal des Vorjahres. Nikosia hat deshalb jüngst die Asylanträge für Syrer ausgesetzt. Zudem berichten NGOs, dass Zypern Schiffe losgeschickt hat, um Flüchtlingsboote in den Libanon zurückzudrängen.

Zypern pocht darauf, dass Syrien in Teilen von der EU wieder als sicheres Herkunftsland eingestuft wird. Außerdem wünscht sich Präsident Nikos Christodoulidis einen neuen EU-Migrationspakt mit dem Libanon – wie jüngst mit Ägypten und Tunesien. Diese Abkommen sehen Finanzhilfen für die Länder in Milliardenhöhe vor – im Gegenzug für sogenanntes Migrationsmanagement. Christodoulidis will am 2. Mai zusammen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Beirut reisen, um dort ein konkretes EU-Finanzpaket zu verkünden.

Angst vor Eskalation 

Demnach geht es darin auch um die Unterstützung libanesischer Institutionen wie zum Beispiel der Streitkräfte. Letztere seien ein stabilisierender Faktor in dem an Syrien und Israel grenzenden Land, das gerade Schauplatz einer gefährlichen Eskalation zwischen der Hisbollah-Miliz und dem südlichen Nachbarn ist und das seit 2011 die beachtliche Zahl von rund 1,5 Millionen Flüchtlingen beherbergt.

Unklar ist, welche Zusagen der Libanon im Gegenzug für diese Gelder im Bereich Migration machen muss und ob das von Zypern angekündigte Finanzpaket in einen Migrationsdeal münden könnte. EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas hatte einen solchen vor rund einem Monat in Aussicht gestellt. Auch die EU-Staats- und Regierungschefs hielten in der Vorwoche in ihrer Gipfelerklärung fest, dem Krisenstaat stärker unter die Arme greifen zu wollen, um eine weitere Gewalteskalation in der Region zu vermeiden.

Schwacher Staat

Anders als Tunesien und Ägypten wird der multikonfessionelle Libanon nicht von mit eiserner Faust regierenden Autokraten beherrscht. Das Land steckt in einer schweren politischen Krise: Immer wieder ist von einer Erosion des Staates die Rede. In der leeren Hülle des Staates spielt die Hisbollah inzwischen wohl die mächtigste Rolle. Das Land hat keinen Präsidenten und wird seit Jahren von einer Übergangsregierung nur geschäftsführend regiert.

Die Institutionen gelten als schwach, wie auch der Fall des getöteten Politikers Sleiman zeigt. Immerhin konnten seine Kidnapper den Leichnam ungehindert über die poröse syrische Grenze schaffen, die streckenweise von der Iran-treuen Hisbollah kontrolliert wird – und nicht vom Staat selbst. Es gilt daher unter Experten als höchst unklar, inwiefern finanzielle Spritzen für Armee und Staat zu einer Entspannung der Lage beitragen können. Allerdings könnten EU-Gelder politische Vertreter immerhin dazu bewegen, die Rhetorik gegen Syrer zu entschärfen. (Flora Mory, 23.4.2024)