Der Wahlsieg Joe Bidens im Jahr 2020 lässt sich auf zwei Arten darstellen. Einerseits als eindeutiger Triumph: Immerhin trennten den Demokraten landesweit rund sieben Millionen Stimmen vom damaligen Amtsinhaber Donald Trump. Oder aber als eine Art Zittersieg. Nur insgesamt rund 22.000 Wählerinnen und Wähler in den drei Bundesstaaten Georgia, Arizona und Wisconsin hätten sich umgekehrt entscheiden müssen, und nicht Biden, sondern Trump hätte alle drei Staaten für sich entscheiden können. Mit weitreichenden Folgen: Beide Kandidaten hätten dann 269 Stimmen im Wahlleutegremium gehabt, das den Sieger der Präsidentenwahl bestimmt. Dann hätte das Repräsentantenhaus nach einem komplizierten Modus entschieden und vermutlich Trump gewählt. Und nur rund 40.000 weitere Wechselwähler in Pennsylvania hätten Trump überhaupt den Sieg beschert.

Bundesstaaten nach Sieger anmalen: Eine Tradition bei der US-Wahl, hier bei einem Public Viewing in Ulan-Bator, Mongolei. Doch bald könnte es damit vorbei sein.
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Es wäre das bisher massivste Beispiel für Verzerrungen des Mehrheitswillens in den USA gewesen, die sich durch das "Electoral College" ergeben. Aber nicht das erste. Schon zwei Mal seit dem Jahr 2000 hat ein republikanischer Kandidat die Präsidentschaft gewonnen, ohne von der Mehrheit der Abstimmenden in den USA gewählt worden zu sein. Im Jahr 2000 siegte nach langen Debatten über das korrekte Ergebnis im Bundesstaat Florida George W. Bush gegen Al Gore, obwohl Letzterer landesweit rund 550.000 Stimmen mehr erhalten hatte. Trump gewann 2016 ganze 304 Wahlleute, während seine Gegnerin Hillary Clinton nur 227 Wahlleute gewann. Dabei hatte Clinton landesweit knapp drei Millionen mehr Stimmen erhalten als ihr Gegner.

Hohe Hürden für Änderung

Bemühungen zur Abschaffung des Wahlleutegremiums gibt es nicht erst seitdem. Weil zuletzt aber immer öfter der nach Wählerstimmen "falsche" Kandidat die Wahlen gewann, nahmen Bemühungen zur Abschaffung des Electoral College zu. Das Problem: Wie Präsidentschaftswahlen in den USA im Grundsatz stattzufinden haben, ist in der Verfassung beschrieben. Und diese zu ändern, ist in den USA ziemlich schwierig. Nötig wären dafür eine Zweidrittelmehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus. Danach müssten auch noch 38 der 50 Bundesstaaten die Änderung in ihren eigenen Gesetzesbestand übernehmen. Ein fast aussichtsloses Unterfangen, weil auch der Wahlmodus in den USA längst zum Politikum geworden ist. Viele Republikaner versprechen sich strukturelle Vorteile, weshalb Zweidrittelmehrheiten im Kongress sehr unwahrscheinlich sind. Und viele Bundesstaaten wissen, dass ihr Gewicht im aktuellen System viel größer ist, als dies anders der Fall wäre.

Anhänger von Donald Trump wollten 2021 das Ergebnis der Präsidentenwahl nicht akzeptieren und stürmten das Kapitol. Knapp war das Ergebnis nur wegen des Wahlleutegremiums.
AP/John Minchillo

Das Wahlleutegremium nämlich bevorzugt bevölkerungsärmere, eher ländliche Bundesstaaten – die traditionell eher republikanisch eingestellt sind. Wie genau der Modus heute funktioniert, steht im zwölften und im 23. Zusatzartikel der US-Verfassung. Wie viele Wahlleute einem Staat zustehen, ergibt sich demnach aus der Zahl der Abgeordneten zum Repräsentantenhaus (insgesamt 435) plus der Zahl der Senatoren, die dem jeweiligen Staat zustehen (jeweils zwei). Außerdem erhält Washington, D.C., das kein Bundesstaat ist, drei Wahlleute. Insgesamt sind das 538 – woraus sich auch ergibt, dass für eine Mehrheit mindestens 270 Wahlleute-Stimmen nötig sind. Kleinere Staaten sind bevorzugt, weil ihnen die zwei Senatoren unabhängig von der Bevölkerungszahl zustehen. Und auch die Zahl der Repräsentantenhaus-Abgeordneten pro Bundesstaat entspricht nicht genau der Bevölkerungsverteilung. Auf andere Weise bevorzugt sind Swing-States: Dort landet während Wahlkämpfen die große Mehrheit der Werbegelder – während in Staaten, deren Stimmen von vornherein als sicher gelten, kaum investiert wird.

Eine elegante Idee

Ein festgefahrenes System, wie man meinen könnte. Und doch scheint eine Änderung mittlerweile möglich. Die elegante Idee, die dazu führen könnte, trägt einen recht uneleganten Namen: National Popular Vote Interstate Compact (NPVIC). Dies ist eine Vereinbarung zwischen Bundesstaaten, die eine Schwachstelle der Verfassungsbestimmungen zu US-Wahlen ausnützt: Staaten können nämlich selbst beschließen, wie genau sie ihre Wahlleute vergeben. Derzeit vergeben 48 der 50 Bundesstaaten ihre Wahlleute gesammelt an jenen Kandidaten, der in ihrem Bundesstaat die meisten Stimmen erhält. Nur zwei, Maine und Nebraska, handeln anders: Dort nominieren einzelne Wahlbezirke jeweils ihren Sieger, die Stimmen können also aufgeteilt werden.

Doch in Stein gemeißelt ist das alles nicht. Der NPVIC verpflichtet die teilnehmenden Bundesstaaten, ihre Wahlleute nicht mehr an jenen Kandidaten zu vergeben, der im jeweiligen Staat gewinnt, sondern an jenen, der im gesamten US-Gebiet die meisten Wählerstimmen errungen hat. Der Clou: Das Gesetz tritt nicht ab dem Beschlussdatum in Kraft, sondern erst dann, wenn es in ausreichend vielen Bundesstaaten verabschiedet wurde, um mehr als 270 Stimmen zu stellen. Damit wäre sichergestellt, dass immer jener Kandidat eine ausreichende Zahl an Wahlleute-Stimmen bekommt, der auch landesweit bei den Gesamtstimmen vorn liegt.

Nicht ganz unrealistisch

Als die Methode 2007 erstmals vorgeschlagen wurde, galt sie als unrealistische Träumerei. Doch mittlerweile haben tatsächlich ausreichend viele Bundesstaaten entsprechende Gesetzte verabschiedet, um 209 Wahlleute-Stimmen vergeben zu können. Zuletzt unterzeichnete vorige Woche die Gouverneurin von Maine, Janet Mills, den Beitritt ihres Staates zum NPVIC. In Nevada und Michigan (6 + 15, also insgesamt 21 Stimmen) sind Beschlüsse auf dem Weg, das wären dann insgesamt 230 Stimmen.

23 weitere könnten die Bundesstaaten Wisconsin und Virginia liefern, sollten die Demokraten 2024 und 2025 dort Mehrheiten in den Abgeordnetenhäusern bzw. das Gouverneursamt erlangen, was beides nicht ausgeschlossen ist. Dann könnten sie nämlich ebenfalls dem NPVIC beitreten. Unsicher bleibt allerdings, woher die restlichen 17 Stimmen kommen könnten. Dass klar republikanisch kontrollierte Staaten beitreten könnten, gilt als unwahrscheinlich. Möglich wäre dort unter Umständen der Weg über Referenden. Immerhin: Laut einer Pew-Research-Umfrage waren zuletzt fast zwei Drittel der Menschen in den USA dafür, das Wahlleute-Gremium abzuschaffen.

Der Supreme Court entscheidet

Doch wäre das alles wirklich so einfach? Klagen gegen die Bestimmungen wären jedenfalls sicher. Möglich wäre unter anderem, dass sich Gegner auf den 14. Verfassungszusatz berufen. Dieser wurde nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs im Jahr 1868 einführt und sollte sicherstellen, dass alle Bürger – damals gemeint: auch Schwarze – gleiches Recht darauf haben, dass ihre Stimme bei Wahlen zählt. Anhänger eines unterlegenen Kandidaten könnten argumentieren, dass ihre Stimme im Bundesstaat nicht mehr zählt, wenn dieser das Wahlergebnis auf Staatsebene für die Vergabe der Wahlleute-Stimmen ignoriert.

Dass die konservative Mehrheit am US-Höchstgericht dem zustimmen könnte, scheint möglich. Vielleicht würde sie sich aber auch an das Jahr 2004 erinnern, das einzige im 21. Jahrhundert, in dem ein republikanischer Kandidat die Mehrheit der landesweiten Stimmen auf sich vereinen konnte. George W. Bush hatte damals rund drei Millionen Stimmen mehr als sein Gegner John Kerry. Und trotzdem fehlten Kerry am Ende nur 120.000 Stimmen in Ohio auf den Sieg. (Manuel Escher, 28.4.2024)