Was für Mühen, sich zu erhalten!", notierte Franz Kafka am 9. März 1914 in seinem Tagebuch. Wie wahr, auch hundert Jahre nach seinem Tod. Er sei hohl wie eine Muschel am Strand, bereit, durch einen Fußtritt zermalmt zu werden, schreibt er an anderer Stelle.

2024 könnte ich die Lebenserschöpfung, die mich häufig überkommt, nicht treffender benennen. Für einen Haderhans wie mich, der an der Daseinsbewältigung verzweifelt, die Sinnhaftigkeit seines Tuns (und des Tuns des Rests der Welt) stets infrage stellt und die Tage in nicht enden wollenden Denkschleifen verbringt, für einen, der, mit anderen Worten, ein gebeuteltes Menschenkind ist, für den gibt es keinen besseren Fürsprecher als Franz Kafka. Seit Generationen spendet der böhmische Jahrhundertautor den Resignierenden und von der eigenen Unzulänglichkeit Zermürbten Zuspruch. Ich kann mir ein Leben ohne Kafka nicht vorstellen. Es wäre leer, trostlos, der letzten Hoffnung beraubt.

Hans Platzgumer beschreibt, wie Franz Kafkas düstere Niederschriften zu Quellen der Zuversicht werden.

Auch agnostische Atheisten, die auf keine überlieferte Gottheit vertrauen können, benötigen einen Schutzheiligen. Ihnen ist der Glaube an Rettung nicht gegeben, sie müssen das Dasein ohne Verklärung annehmen, solange es geht. Sie berufen sich auf kein wie auch immer ausgemaltes Danach, ihr Sein findet nur im Hier und Jetzt statt. Sie sind mit Instinkten, Trieben und auch einem Gehirn ausgestattet, das verstehen, begreifen, lernen, vorausschauen will. Damit sind alle Voraussetzungen zum Scheitern erfüllt. Um es mit Kafka auszudrücken: "Unmöglichkeit, zu schlafen, Unmöglichkeit, zu wachen, Unmöglichkeit, das Leben, genauer die Aufeinanderfolge des Lebens, zu ertragen."

Unheilvolle Seelenzustände

In der überfordernden Situation als in die Welt hinausgespucktes Individuum tut es gut, Kafkas Beistand zu haben. Er hat das Dauerringen mit sich selbst vorgelebt und, als meistgelesener Autor deutscher Sprache, trefflich wie kein anderer beschrieben. Kafka ist der unangefochtene Meister im Ausformulieren unheilvoller Seelenzustände. Sein Werk, so fantasievoll, (alb)traumhaft und mysteriös es ist, steht, selbst wenn es in die Unendlichkeit abzuheben vermag, fest verankert im Boden, den wir alle teilen. Plastisch, autobiografisch verbürgt und plausibel erzählt, fasst es ein universelles Ausgesetztsein, Verlorensein in Bilder, die für nachkommende Generationen Gültigkeit besitzen. Kafkas Erzählungen, Romanfragmente, vor allem seine Tagebuchnotizen beschreiben exemplarisch und punktgenau die Irritation und Verunsicherung angesichts existenzieller Herausforderungen. In ihnen erkenne ich einen Weg, der eigenen Unvollkommenheit reflektiert und kleinlaut zu begegnen und die Scham, Neurosen und Eigenarten, die aus dieser Selbstbegegnung entstehen, in Kauf zu nehmen. Durch Kafka begreife ich den Mut, den es braucht, sich der eigenen Feigheit zu stellen.

Mein Verlagskollege Norbert Gstrein würde mein Verkriechen unter Kafkas Schutzmantel als romantisches Gehabe bezeichnen und mich einreihen in "all die Mühseligen und Beladenen, all die Missverstandenen dieser Welt, die in ihm ihren Sprecher gefunden zu haben glauben und seinen Fall zu ihrem machen und sich damit für alle eigenen Unzulänglichkeiten exkulpieren", wie er in einem Essay zu Kafkas Das Schloss schreibt.

Hans Platzgumer
Findet in Sätzen Kafkas Halt: Hans Platzgumer.
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Er mag recht haben. Doch sein Urteil nützt mir nichts. Doppelt fühle ich mich dadurch auseinandergerissen. Ich dürfte nun nicht einmal mehr Zuflucht in Kafkas Weltbeschreibung suchen, ohne mich als Würstchen zu outen, als Teil einer Legion von Losern, die zu oft im Laufe ihres Lebens erfahren haben, dass es kein wirkliches Gewinnen gibt. Wie soll es in einer Existenz, die sich wie alles im Fluss befindet, dauernden Erfolg, bleibende Zufriedenheit geben?

Das Leben eines freischaffenden Künstlers ist ein Pendeln zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitserkenntnis, zwischen Anmaßung und Ernüchterung. Es ist die Aneinanderreihung von Versuchen, etwas zu erschaffen, das die eigene Begrenztheit durchbricht. Auf jedes solche Unterfangen folgt, egal ob es abschnittsweise gelingt oder nicht, eine Leere, die erneut gefüllt werden muss. Ein Künstlerleben, zumindest wie ich es seit vier Jahrzehnten führe, besteht aus einer sich wiederholenden Abfolge von Illusionen, Zwängen, flüchtigen Erfolgserlebnissen und aus dem Nichts auftauchender Zerschmetterung. Nirgendwo lässt sich dieser Kreislauf besser nachlesen als bei Kafka. Ich fühle allzu sehr die Grenzen meiner Fähigkeit, die, wenn ich nicht vollständig ergriffen bin, zweifellos nur eng gezogen sind, notiert er. Und dann wieder: Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.

Seine Kanonisierung

Sicher, es ist lächerlich, unreif, vermessen, den Seelenqualen eines anderen nachzuspüren und dessen Leiden auf das eigene zu beziehen. Und doch ist es naheliegend, verlockend, Halt in Kafkas Sätzen zu suchen. Er zwingt einem den Beistand förmlich auf, auch wenn er dies nicht wissentlich tat. Seine Notizen waren nie für die Öffentlichkeit gedacht, erst Jahrzehnte nach seinem Tod entwickelten sie ihre Wucht. Erst der posthume Ruhm, den Kafka erlangte, erst seine Kanonisierung machte aus den intimen Niederschriften symbolträchtige Leitbilder.

Ursprünglich mag es nichts als Resignation ausgedrückt haben, wenn Kafka etwa im Sommer 1914 den Schacht beschrieb, der genau den Durchmesser meines Körpers, aber eine endlose Tiefe hat, in dem er versinkt. Diese Endlosigkeit verlockt zu keinen besonderen Leistungen, alles, was ich täte, wäre kleinlich, ich falle sinnlos, und es ist das Beste. Doch da die Texte, die ihm trotz allen Verzagens gelungen sind, mittlerweile in die Weltliteratur eingegangen und als einzigartig anerkannt sind, erscheint eine solch entmutigte Notiz in anderem Licht. Kafka, der natürlich die Zukunft nicht lesen konnte, wandte, ohne es zu wissen, eine dialektische Methodik an. Er teilte etwas mit, das uns heute dessen Gegenteil suggeriert. Wenn er vom Aufgeben schrieb, übermittelt er uns die Botschaft: Weitermachen lohnt sich. Was er als jämmerliches Scheitern beschrieb, lesen wir inzwischen als Reüssieren auf höchstem Niveau. Die historische Retrospektive macht Kafkas Kapitulation für uns zur Motivation. Seine düsteren Niederschriften werden zu Quellen der Zuversicht.

Ein solcher Zaubertrick funktioniert nur, weil Kafka sogar im dunkelsten Moment der Zermürbung zugänglich bleibt. Sein Weltschmerz wirkt nie abstoßend. Kafka findet stets die richtigen Worte, keines zu viel, keines zu wenig. Seine Pein artet nicht in Jammerei aus. In keiner von Kafkas Schriften findet sich das nervtötende Selbstmitleid, das anderswo die Empathie der Lesenden im Keim erstickt und sie fortjagt vom Erzählten.

Leiden eines kleinen Mannes

Kafka suhlt sich nicht im Schmerz, er hält ihn lakonisch fest. Nüchtern und dennoch eindringlich benennt er ihn als das, was er ist: ein Teil der Vergänglichkeit, nicht mehr und nicht weniger, ein Moment, der vergehen wird und ebenso wiederkehren wird, eine Tatsache, mit der man sich abzufinden hat. Bei aller persönlichen Seelenqual verstand Kafka sein Suchen und Leiden nicht als etwas Weltbewegendes.

Für ihn blieb es das verborgene Leiden eines kleinen Mannes in dessen kleiner Welt. Diese unprätentiöse Perspektive, dieser Antinarzissmus macht Kafka sympathisch und seine Überlegungen nachvollziehbar. Er vermittelt, dass keine Gefühlsregung zu klein ist, um nicht ernst genommen werden zu dürfen. Alles verdient Aufmerksamkeit. Sogar kurz vor seinem Tod hielt er auf einem Gesprächsblatt (aufgrund seiner fortgeschrittenen Kehlkopftuberkulose und der Schmerzen, die ihm das Sprechen bereitete, war ihm eine Schweigekur verordnet worden) im Sanatorium in Kierling fest: "Dafür müßte man noch sorgen, daß die untersten Blüten dort, wo sie in Vasen gedrängt werden, nicht leiden. Wie könnte man das machen. Vielleicht sind wirklich Schalen das Beste." Alles ist der Beschäftigung wert – das heißt auch: Kein Bedürfnis steht über dem anderen, nichts ist unter-, nichts überzubewerten, alles sind Momentaufnahmen, alles Stückwerk, Teil endloser Vergeblichkeit. "Ich bin an der endgültigen Grenze, vor der ich vielleicht wieder jahrelang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen", notierte er am 30. 11. 1914. Im Jahr darauf erschien seine berühmteste Erzählung Die Verwandlung.

Kraft durch Bescheidenheit

In der Bescheidenheit liegt Kafkas Kraft, in der seismografischen Analyse und gleichzeitigen Zurücknahme des Ich. Kafka macht sich klein und arrangiert sich mit dem Gang der Dinge. Es ist kein fatalistischer Ansatz, vielmehr ein realistischer: Der Mensch tut, was er kann, wissend, dass es nicht genügt. Er gibt sich mit kleinen Schritten zufrieden, mit Unabgeschlossenem. Franz Kafka war das Gegenteil eines Megalomanen. Er beobachtete sich und die Dinge, solange sie in überschaubarem Rahmen blieben. Und mit gleichem Pragmatismus näherte er sich dem Ungreifbaren, Unfassbaren, das unsere Ratio übersteigt.

Ein wichtiges Element in Kafkas Schaffens sind die Träume und Halbschlaffantasien, wie er, der an heftiger Insomnia litt, die Konstrukte seiner überbordenden Fantasie nannte. Ich schlief fast gar nicht, machte nur etwa drei kurze Träume durch, beschreibt er im Dezember 1914 eine seiner üblichen Nächte. Ich zählte 21 konkrete, teils mehrseitige Traumschilderungen in Kafkas Tagebüchern, als ich mich 2021 bei der Recherche zu meinem Roman damit auseinandersetzte.

Kafka fühlte sich vom Schlaf zurückgewiesen. Oft konnte er nächtelang keinen finden und ließ sich nachmittags auf dem Kanapee in einen luziden Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit fallen, aus dem er seine Inspirationen zog.

In Kafkas Werk verschwimmen Fiktion und Realität zu einer furchteinflößenden, klaustrophobisch wirkenden Zwischenwelt, die heute landläufig als kafkaesk bezeichnet wird. Lesen wir Kafka, betreten wir ein rätselhaftes Reich voller Sackgassen und Falltüren, das allen Durchdringungsversuchen trotzt und bei allem Bemühen unabänderlich bleibt. Doch dieses Sisyphus’sche in Kafkas Welt ist nicht nur beklemmend. Das glasklare Hinschauen des Autors entreißt dem Schrecklichen einen Teil des Schreckens.

Ein miserabler Schläfer

Als Jugendlicher hatte ich immer Angst vor Horrorfilmen und hielt mir die Augen zu, wenn die Spannung unerträglich wurde. Es dauerte Jahre, bis ich verstand, dass durch das Wegschauen der Horror nur viel schlimmer geworden war. In meinem Kopf hatte er sich zum absolut Entsetzlichsten aufgebaut, das ich mir vorstellen konnte. Ein Ausblenden hilft nicht, im Gegenteil. Lohnender ist Kafkas Technik des bewussten Betrachtens, Analysierens, des trockenen Benennens der Dinge.

Seit Jahrzehnten habe ich mir keinen Horrorfilm mehr angetan, aber wenn ich nachts wachliege – ich bin ein ähnlich miserabler Schläfer wie Kafka –, stoße ich in meinen Denkräumen und -spiralen auf jede Menge unwillkommener Quälgeister. Es kommt mir dann vor, als wäre ich wie Kafka von Träumen geplagt, "so wie wenn sie in mich, in ein widerwilliges Material eingekratzt würden" (3.2.1922).

Ich erinnere Kafka in diesen dunklen Stunden und bin dadurch weniger allein mit mir und den Dämonen und Monstern. Durch ihn wird das, was schwer ist, ein wenig leichter, erträglicher, er verkleinert, seziert es für mich. Er dreht das Dunkle in etwas nahezu Amüsantes. Kafkas Hinterlassenschaft, selbst was er in düstersten Phasen zu Papier brachte, gibt mir auf diese Weise Halt.

Die Botschaft, die ich aus seinem Vermächtnis herauslese, ist: Die Angst wie deren Überwindung, die Selbstzermarterung wie der Triumph, Versagen, Verzweifeln und Nichtgenügen gehören genauso zu einem erfolgreichen Menschsein wie die flüchtigen Erfolgsmomente, Freuden und Vergnügungen. Das Glück ist ein Vogerl, heißt es. Das Unglück ist es auch. Niemand lehrt mich dies so gut wie Franz Kafka. (Hans Platzgumer, 20.4.2024)