Jemand musste Franz K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er gegen seinen Willen am 26. April 1990 auf eine schäbig kleine Theaterbühne in Wien gezerrt, als Protagonist eines Stückes namens Kafkas Franz, nie fühlte er sich unwohler als an diesem Tage, nicht nur weil mit dem Franz im Titel ein Teil seines Körpers gemeint ist, der für ihn immer eine fremde Galaxis war, aber seine Alpträume und sein Willen hatte ja auch schon etwas früher sein Freund Max Brod missachtet, indem er sein unveröffentlichtes Zeugs bekanntermaßen nicht vernichtete, sondern bewahrte. Dass er überhaupt wieder zum Leben erweckt wurde, 86 Jahre nach seinem Tod in einer kleinen Lungenheilanstalt in Kierling in Niederösterreich, lag daran, dass ein gewisser Sydney auf eine Schildkröte uriniert hatte.

1990 brachte der Sparverein Die Unzertrennlichen Alan Bennetts
1990 brachte der Sparverein Die Unzertrennlichen Alan Bennetts "Kafkas Franz" in Wien auf die Bühne.
Foto: Robert Newald

Das Stück schrieb vier Jahre vorher Alan Bennett, ein britischer Schriftsteller, der ziemlich exakt zehn Jahre nach Kafkas Todestag geboren wurde, inszeniert wurde es von einer Gruppe namens Sparverein Die Unzertrennlichen, die sich nach einem "kafkaesken" Film von David Cronenberg benannte, das muffig Hoffnungslose im "Verein" und das "Sparen" im Namen bezogen sich auf das Wirtschaften des Regisseurs Kurt Palm, das Unzertrennliche ist eine ironische Ablenkung davon, das Geld reißt uns wieder einmal auseinander, Joy Division paraphrasierend, Love Will Tear Us Apart.

Kurt Palm programmierte ein Jahr zuvor ein vierundzwanzigstündiges Kafkahappening, an dem der rasend komische Film Klassenverhältnisse von Jean Marie Straub und Danielle Huillet, eine Verfilmung von Kafkas Amerika, gezeigt wurde und Eckhard Henscheid aus seiner nicht minder komischen Fortschreibung Rossmann, Rossmann ... des abrupt irgendwo in den Weiten Oklahomas verröchelnden Buches. Später sekundierte der Verein Henscheid mit einem Busausflug nach Kierling zu einem umgekehrten Diebstahl, indem Henscheid sein eigenes Buch in die Gedenkstättenbibliothek schmuggelte.

Schwank im Geiste Kafkas

Kurt Palm und ich lasen auf diesem Festival das Stück von Alan Bennett mit verteilten Rollen, und als wir merkten, wie gut das ankam, wie sehr der Geist Kafkas mit diesem Schwank weiterwehte wie eine Gardine in der Nacht, beschloss Palm, das zu inszenieren, und weil er sich keine "richtigen" Schauspieler leisten konnte (Sparverein) und wollte, also deren mitunter kapriziösen Attitüden, beschloss er, das ganze mit Laien zu besetzen, so wie Straub/Huillet es für ihren fantastischen Film auch schon vorgemacht hatten, weil man mit Dilettanten ja nicht verlieren, nur gewinnen kann, zumindest in dieser auf Blendung basierenden Branche. Er ahnte nicht, dass auch Amateure das Recht haben, dann und wann zu Kapriziosität und Gehirnkapriolen ("Ich bin keine Nummer, ich bin ein Mensch", Patrick McGoohan in Nummer 6, der britischen Serie mit den meisten Kafkareferenzen) zu neigen.

Ich übernahm das Casting der sechs Darsteller, das Bühnenbild und den Kitt zwischen uns und dem Regisseur sollte die Künstlerin Ursula Hübner übernehmen, eine damalige Wohnungsgenossin.

Max Brod wurde mit dem Berliner Autor Max Goldt besetzt, mit dem ich damals befreundet war. Es erleichterte, dass ich mich selbst als Kafka castete, weil ich nicht nicht dort vorkommen wollte, so viel Bescheidenheit empfand ich noch nicht als falsch, wenn ich schon das Stück entdeckt hatte, ursprünglich wollten wir das umdrehen, Max sollte Kafka sein, ich Brod, aber eingedenk eines der vierundzwanzigtausend Kafkabonmots: "Bescheidenheit ist immer falsch, sonst wär sie keine Bescheidenheit", gleich die ominöse fünfte Wand durchbrechen, also "Sechs Knallchargen unter der Zirkuskuppel, ratlos", Alexander Kluge paraphrasierend, oder war es Peter Handke?

Das Plakat zur
Das Plakat zur Reunion im Theater Rabenhof am 19. Mai.
Rabenhof

Der saß in der Premiere, weil die Besetzung auch seine Tochter Amina miteinschloss (deren Mutter Libgart Schwarz auch schon in Klassenverhältnisse mitspielte), als Linda, die Frau von Sydney alias Christoph Winder ("Linda, du bist kein Niemand, du bist meine Frau"), der als Amateurkafkaologe, ebenfalls wie der von ihm verehrte "Prager Proust" in einer Unfallversicherungsanstalt arbeitende Schildkrötenpisser das ganze Chaos ins Rollen bringt, Fritz Ostermayer als Kafkas despotischer Vater Hermann und Elisabeth Kny als seine Mutter Julie ("Hat er was gegessen? Ich hab hier in meiner Handtasche einen Sahnebonbon, habe kaum daran gelutscht"), in der Premiere saßen außerdem der damalige Wissenschaftsminister Erhard Busek, der prompt einschlief und das Stück durchschnarchte, aber weck mal einen Minister, und Hermine Demoriane, die Interimssängerin der Punkrockgruppe The Damned, während Peter Handke seine Schuhe und Socken auszog und mit seinen Zehen spielte wie ein Kleinkind, so sah das also alles aus an besagtem 26. April 1990, als Franz Kafka sich aus einer Schildkröte in die Jetztzeit verpuppte und sich so unwohl und unwillkommen fühlte wie ein Ungeziefer am Morgen.

Missverständnis

Hermine verstand kein Wort, auch nicht den Inhalt, sie dachte, es sei ein Text von Kafka, in dem er mit Kumpel Brod in die Zukunft reist und all den Schrecken eines von ihm misstrauten Ruhms durchleiden muss, Menschen interessieren sich für ihn, "Mädchen ohne Moral und Kenntnis der europäischen Literaturgeschichte umzäunen dich" (Max Brod/Goldt), all die Schrecken der Bekanntheit, und dann tauchen auch noch seine Eltern auf, der Vater poltert: "Ich habe ganz Prag mit Sockenhaltern versorgt, und jetzt hab ich plötzlich einen Sohn, wo ist er, ist er sich zu fein, seinem Vater einen Kuss zu geben?"

Der Kuss wird im Stück von Sydney mit einer Polaroidkamera festgehalten, das Stück wurde 27 Mal aufgeführt, demnach gibt es 27 Beweise dafür, wie Hermann Kafka seinen fahrkartendünnen Sohn wie in einen Schraubstock eingezwängt zu fragwürdiger Intimität überrumpelt, um die Geschichte eines tyrannischen Vaters, von Sydney festgehalten, in die eines liebevollen umzuschreiben einfordert.

Überraschend kam für alle Beteiligten dieser seltsame Erfolg des Stücks, der nicht nur in Wien, im Konzerthauskeller die Leute begeisterte, auch Gastspiele in Linz und Salzburg folgten, sowie eine vollkommen, nun ja, lyncheske (muss nicht immer alles kafkaesk sein) Tour durchs Ruhrgebiet, für uns an exotisch, industriell klingende Orte wie Essen, Recklinghausen, Wuppertal, Bochum ("Zeche Carl"), Dortmund ("Fletch Bizzl"), überall wurde das gezeigt, diesmal aber kam die Ratlosigkeit vom Publikum, wer sind die, was wollen sie, wo ist der Ausgang?

Ratlose Tage in ratloser Gegend

Wir als die aus dem Erklärungsvakuum entlassene Truppe wohnten in Mülheim an der Ruhr, im Hotel Handelshof, am Ende eines ratlosen Tages in einer ratlosen Gegend versammelten wir uns immer in der Hotelbar, wo sich auch Helge Schneider und Christoph Schlingensief stets zu treffen pflegten, also keine nicht ganz so deprimierende Adresse, um heimzukommen. In Essen verirrte sich ein Teil der Truppe ins "Hugo-Wolf-Stüberl" und probte den Einakter Das ist ein ausgezeichneter Cognac, Herr Fabrikant, den man im Anschluss an Kafka allerdings nur im privaten Kreis zur Aufführung brachte, es ergab sich nie der Wunsch oder der Wille zu einer größeren Plattform, zu filigran war die Idee, die Teilnehmer zerstreuten sich danach in alle Winde, man verlor sich aus den Augen.

Was sich allerdings ergab, und das ist überraschend genug, ist die Reinszenierung des Kafkastücks, das heuer eine jubiläumsbezügliche Dringlichkeit bekommt, nämlich des hundertjährigen Kafkatodesjahrs, alle Teilnehmer von damals, unwesentlich gealtert, sitzen im Theater im Rabenhof in Wien zusammen und rekonstruieren in einer szenischen Lesung mit ihrem Regisseur, was vor 34 Jahren passierte, eingedenk der Koinzidenz, dass der tschechische Name des Autors im Deutschen Dohle ist, also ein Rabenvogel. Die wenigsten Zeugen von einst werden sich noch an das Stück erinnern, surreal wie eine Dohle in Dortmund ist es allemal.

Das Stück endete damals so, dass das Ensemble gegen den Willen des Regisseurs einfach beschloss, als alle Witze gesagt und gespielt waren, es gut sein zu lassen, es abzubrechen und statt sich zu verbeugen, ungelenk und steif zu tanzen wie die Insassen einer Nervenheilanstalt zum eingespielten Lied Bend It einer Sixtiesband namens Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich. Die Vorstellung, dass Kafka das mitbekommen hätte, fassungslos in einer Ekelfaszination sich selbst beim Tanzen mit einer Truppe von fröhlichen Schießbudenfiguren beiwohnend, ist so gänzlich unreizvoll nicht. (Tex Rubinowitz, 20.4.2024)