Wenn wir mit all unseren Gliedmaßen nach / Weimar fahren im Mai, dann kostet das was / Dann kostet das was“, heißt es in einem Gedicht von Robert Schindel mit dem Titel Geschichtszauber, erschienen vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten. Man merkt den Versen die Jahre nicht an, so wie man sie Schindel nicht ansieht, der kürzlich seinen 80. Geburtstag beging.

Robert Schindel
Formale und thematische Vielfalt, Brillanz und Sprachwitz: Robert Schindel.
Foto: APA/ Georg Hochmuth

Bei zahlreichen Lesungen habe ich Schindel dieses Gedicht vortragen hören, auch das Gedicht Rindfleisch. Beide Texte bringen wie viele andere ein Lebensthema Schindels zur Sprache, die Ausrottung des europäischen Judentums während der Zeit des Nationalsozialismus. Aber es ist eben nur eines der Themen, und wer Schindel darauf reduziert, bringt sich um den Genuss eines Œuvres, das durch thematische und formale Vielfalt, Sprachwitz und verblüffende, mitunter schelmische Wendungen besticht wie kaum ein anderes lyrisches Werk der letzten Jahrzehnte.

Dabei ist Schindel mehr als Lyriker, er ist Romancier, Essayist, Regisseur, er ist Förderer und Fürsprecher vieler Autorinnen und Autoren, ich habe ihm einiges zu verdanken. Kennengelernt habe ich ihn vor mehr als 20 Jahren in Wien, ich hatte eine Lesung beim Festival Rund um die Burg, um sieben Uhr morgens, das Publikum ließ sich an einer Hand abzählen. Meine Stimmung war dementsprechend, aber das Honorar recht fürstlich, ich ging ins Café Landtmann, dessen Preise die Honorarsumme rasch relativierten.

Dünkellos

Plötzlich trat Schindel an meinen Tisch und sagte, ich werde bald eine erfreuliche Nachricht erhalten. Ich war verwirrt, und mein Erstaunen steigerte sich noch, als er hinzufügte, er habe meine beiden Lyrikbände gelesen, er sei Juror für den Priessnitz-Preis und. Er nahm Platz, ermutigte mich, weiterzuschreiben, wir sprachen über Gedichte, wie wir es noch oft machen sollten, und was mir von Anfang an auffiel: Schindel ist ohne Dünkel, sucht stets das Gespräch auf Augenhöhe, seine Ratschläge kommen ohne Besserwisserei aus.

Das merkte ich auch, als er mich zum Bachmannwettbewerb einlud, mich, der ich zuvor kaum Prosa geschrieben hatte, er wischte meine Bedenken vom Tisch, schreib, wegstreichen kann man immer. Oder als ich einmal in einem Text den ­Begriff Bauchnabel verwendete und er mich verschmitzt ansah, die Reduktion sei doch eines der wichtigsten Stilmittel und hier recht simpel anzuwenden, nicht? Ich schaute ihn verdutzt an, und er fragte, ob ich noch einen anderen Nabel am Körper habe.

In schöner Erinnerung ist mir auch die gemeinsame Lesereise durch Tschechien. Wir trafen uns am Südbahnhof in Wien, ich sehe Schindel noch vor mir in Jeans, Hemd und Jeansjacke. Wir gingen in den Speisewagen, ich aber kehrte bald an meinen Platz zurück, in Prag hatten wir Aufenthalt. Als der Zug wieder anfuhr, fragte ich mich, was wohl den Schindel so lange im Speisewagen halte, da rief er mich an, man habe den Waggon in Prag abgekoppelt – und er sitze noch drin. Ich solle zum Veranstaltungsort weiterfahren, seinen Koffer mitnehmen, und ich solle bloß die Jeansjacke nicht vergessen, er werde schon irgendwie nachkommen.

Von Stadt zu Stadt

Das tat er auch, kurz nach mir traf er ein, und ich frage mich heute noch, wie er das geschafft hat. Dann von Stadt zu Stadt, ich erinnere mich an seine Worte: "Egal in welchen Ort ich komme in Osteuropa, stets will man mir gleich den jüdischen Friedhof zeigen." Ich begann seine Gedichte mehr und mehr zu begreifen. Sein Vater in Dachau ermordet, seine Mutter überlebte Auschwitz und Ravensbrück, er selbst entging nur knapp seiner Deportation. Geboren im April 1944, er selbst kenne das genaue Geburtsdatum nicht, aber 4. 4. 44, das klinge doch nach was.

Schindels Werk wurde oft gewürdigt und mit Preisen bedacht. Einmal kamen wir nebenher auf literarische Auszeichnungen zu sprechen, Gespräche, die mich an sich anöden, für viele Autorinnen und Autoren aber mutmaßlich zur Ingredienz ihrer Zusammenkünfte gehören, ausgerechnet der habe diesen Preis erhalten und ausgerechnet die jenes Stipendium, als handelte es sich um ein Treffen von Zukurzgekommenen. Und ich hörte Schindel sagen: "Neid verdornt das Herz." Das ist eine der Lektionen, die er mich lehrte, ich ziehe den Hut vor ihm, seine Gedichte begleiten mich durch die Tage, kommen mir spontan in den Sinn, dann schindelt es in meinen Gedanken. Freilich, ich gesteh’s, ich neide ihm manche Verse, die mir gerne eingefallen wären wie jene aus seinem jüngsten Lyrikband Flussgang: "Wer das Unmögliche / Nicht will // Dem wird das Mögliche / Unmöglich." (Christoph W. Bauer, 20.4.2024)