Wie liest man am besten Kant? Wie nähert man sich einem Denker an, der zwar immer das große Publikum im Auge hatte, dabei aber doch eine enorme Anstrengung des Begriffs erfordert? An den Primärtexten führt kein Weg vorbei. Aber es unbegleitet mit der Kritik der reinen Vernunft aufzunehmen kann schnell zu Frustrationen führen. Also doch besser eine Einführung?

Zu empfehlen wären aus dem Antiquariat die Klassiker des philosophischen Denkens, die 1983 bei dtv erschienen sind. Da kommt man zwar erst in Band zwei zu Kant, kann ihn dann dafür aber schon ein wenig einordnen. Und hat eine Vorstellung von den Systemen, über die er hinaus oder die er in ihre Grenzen weisen wollte. Die 80 Seiten, auf denen Alfred J. Noll aktuell über Kant forever? nachdenkt, sind hingegen als Einführung nur bedingt geeignet. Der Autor ist als Jurist, Politiker und engagierter Österreicher bekannt. Seine Leidenschaft für die Philosophie geht über ein bloßes Steckenpferd weit hinaus, dazu muss man sich nur ansehen, was er seit einer Weile im Czernin-Verlag zum politischen Philosophen Hobbes vorlegt.

Immanuel Kant im Jahr 1790.
Enorme Anstrengung des Begriffs: Das Bild zeigt Kant (1724 – 1804) im Jahr 1790.
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Bei Kant forever? setzt Noll allerdings ein wenig zu unmittelbar ein – kein Wunder, wenn er bei dem knappen Umfang seines Buches auch noch eine biografische Einführung mitliefert. Die Erkenntnistheorie, ein Kernthema von Kant, dröselt Noll in der Sache plausibel auf, gerät dabei aber doch in Passagen wie diese: "Weil Kant die Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand als zwei verschiedene Elemente analysierte, kam er zu einer funktionalistischen und antisubstantialistischen Konzeption der Kategorien, also zu einer Bejahung der materiellen Instanz bzw. der sinnlichen Mannigfaltigkeit der Welt. Darin besteht die Existenzialität des Urteils."

Nolls Buch hat den Vorzug, Kant dezidiert auch zu historisieren, die Kritik durch Marx an den bürgerlichen Engführungen wird immer mitgeführt, und am Ende wird deutlich, warum der Titel ein Fragezeichen enthält. Man müsste von Noll am besten zur Kritik der praktischen Vernunft weitergehen, also zu einem Primärtext, um sich mit Kant zu versöhnen. Lesepragmatisch empfiehlt sich allerdings eher, ein paar kleinere Schriften Kants zur Geschichte vorzuziehen, denn hier lernt man den Intellektuellen, den Weltbürger, den Vordenker der Aufklärung kennen.

Umfassende Studie

Und dann hat man vielleicht Lust auf eine umfassende Studie wie die von Lea Ypi, die sich in Die Architektonik der Vernunft mit einem Kapitel aus der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt. Ypi wurde vor allem mit ihrem Buch Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte bekannt, in dem sie ihre Herkunft aus Albanien und das Ende der Systemkonkurrenz zwischen dogmatischem Kommunismus und entfesseltem Kapitalismus reflektierte.

Man hätte von ihr nicht unbedingt eine hochtheoretische Kant-Exegese erwartet, ihr Fach ist ja eigentlich die politische Philosophie an der London School of Economics. Aber sie hat an diesem Buch offensichtlich ihr ganzes erwachsenes Leben immer wieder gearbeitet, und nun ist es in den Suhrkamp Taschenbüchern Wissenschaft in einer Reihe erschienen, die den Deutschen Idealismus mit der analytischen Philosophie zu vermitteln versucht.

Regeln der Freiheit

Ypis Thema geht an die zentrale Nahtstelle in Kants Werk: an den Übergang von der theoretischen zur praktischen Vernunft. Sie nimmt ein Kapitel in der Kritik der reinen Vernunft zum Ausgangspunkt, das sich mit der "Architektonik" der Vernunft beschäftigt – "einer der dichtesten, rätselhaftesten, ja zuweilen geradezu undurchdringlichen Texte in Kants gesamtem veröffentlichten Werk". Ypi rekonstruiert dann geduldig, warum Kant für seinen Anspruch, dass die Vernunft in ihrer theoretischen wie praktischen Ausprägung einheitlich sein muss, eine Architekturmetapher gebraucht. Kant konnte letztlich die Normen (die Regeln für die menschliche Freiheit) nicht schlüssig aus der theoretischen Vernunft, also aus der Ordnung der Natur herleiten. Die Freiheit hängt gewissermaßen in der Luft, und Kant drehte schließlich die Frage um: Nun ging es darum, was der Mensch mit der Natur tun kann, nicht mehr, wie er ihr praktisch entsprechen kann.

Damit kommt die Kultur ins Spiel. Und unsere Gegenwart als die zeitunglesender Menschen, zu deren Kultur es gehört, dass der Buchmarkt sich zum 300. Geburtstag von Kant bemüht, uns den Aufklärer zu erschließen. Das im STANDARD schon vorgestellte Gesprächsbuch von Omri Boehm und Daniel Kehlmann bleibt aktuell die beste Einführung. Man sollte es aber auch mit Kant selbst probieren, in einem ständigen Hin und Her. Kant lesen ist, wie jedes Lesen, ein Lebenswerk. (Bert Rebhandl, 20.4.2024)