Ein Schwefelmaskentyrann, ein Vogel mit schwarz-weiß-gelb-braunem Gefieder, schnappt sich eine rote Beere.
Der Schwefelmaskentyrann ist ein Allesfresser und die erste Vogelart, deren Träume hörbar gemacht wurden. Vor allem wenn es um Futter geht, kennt er kein Pardon.
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Die Revolution der Traumforschung fand in den 1960er-Jahren statt. Damals experimentierte der französische Neurowissenschafter Michel Jouvet an Katzen. Jahrzehntelang hatten viele seiner Kolleginnen und Kollegen Tiere quasi als lebendige Maschinen betrachtet und somit stark infrage gestellt, ob sie überhaupt träumen können. Jouvet interessierte sich vor allem für das Thema Schlaf. Er fragte sich, was die meisten Menschen daran hindert, während des Schlafens jene Bewegungen auszuführen, die sie im Traum tätigen – also beispielsweise herumzulaufen, während ihr Traum-Ich spazieren geht.

Michel Jouvet hatte ein evolutionsbiologisch altes Hirnareal im Verdacht, solche Bewegungen weitgehend zu unterdrücken. Seine Vermutung stützte er mit erstaunlichen Experimenten an Katzen, denen dieser Teil per Operation durchtrennt wurde. Ein nicht unumstrittener Eingriff, der paradoxerweise nahelegte, dass uns Katzen ähnlicher sind als gedacht. Denn es sah ganz so aus, als könne man ihnen durch die OP beim Träumen zusehen: Ihr Gehirn hielt sie nicht mehr davon ab, ihre Traumerlebnisse in die Realität umzusetzen. So nahmen die Katzen die Verfolgung ihres Schwanzes auf und jagten die Tiere, von denen sie träumten. Dies wurde auf Video festgehalten.

Cat REM Sleep w/o Paralysis
He chases the flies and mice!
manbean

Seitdem gab es viele weitere Studien über träumende Tiere, vor allem auch über Vögel. Tauben haben im Schlaf teils Hirnaktivitäten, die denen während des Fliegens ähneln. Und in den Gehirnen junger Zebrafinken zeigen sich Muster wie bei Singübungen, als würden sie Gelerntes im Schlaf festigen – ähnlich wie wir. Nun dürfte einem argentinischen Forschungsteam ein weiterer Fortschritt gelungen sein: Sie berichten im Fachjournal "Chaos", dass sie den Klang eines träumenden Vogels – eines sogenannten Schwefelmaskentyranns – nachstellen konnten.

Furioser Schreivogel

Der Schwefelmaskentyrann (Pitangus sulphuratus) ist auf dem amerikanischen Kontinent heimisch und macht seinem Namen alle Ehre. Der Vogel trägt einerseits einen furiosen schwarzen Streifen von der Schnabelspitze bis zum Hinterkopf, andererseits mag er als lautstarker und territorialer Nachbar manch einen Artgenossen tyrannisieren (und stellt dabei die Federn auf seinem Kopf eindrucksvoll auf). Als "Tyranni" bezeichnet man allgemein die Schreivögel, zu denen diese Spezies gehört.

Zwei Schwefelmaskentyrann-Vögel sitzen auf einem Stein, einer ist im Profil zu sehen, hat seine Federn erhoben und zeigt seine aufgestellten schwarzen Kopffedern mit leicht geöffnetem Schnabel.
Der Schwefelmaskentyrann oder Schwefeltyrann ist bekannt für sein territoriales Verhalten, bei dem er auch seinen Federkamm aufstellt (und dabei an seine entfernten Verwandten, die Dinosaurier, erinnert). Selbst von größeren Vögeln lässt er sich nicht einschüchtern.
EPA / Jeffrey Arguedas

Im Vergleich zu Singvögeln haben Schreivögel einen anatomisch simpleren unteren Kehlkopf. Das macht sie auch für die Forschung interessant. Für den Schwefelmaskentyrannen konnte das Team bereits feststellen, wie seine Laute im Kehlkopf physikalisch zustande kommen, sagt Studienautor Gabriel Mindlin. Er forscht an der Universität Buenos Aires in Argentinien und der Universidad Rey Juan Carlos im spanischen Madrid.

Der Physiker und Vogelgesang-Experte hat mit anderen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern außerdem herausgefunden: Während des Träumens entstehen im Gehirn der Vögel bestimmte Aktivitätsmuster, die mit den Muskeln im Stimmapparat verknüpft sind. Mindlin arbeitet seit 20 Jahren daran, diese Muskelinformationen, die man per Elektromyografie (EMG) messen kann, in hörbare Klänge umzuwandeln.

Streiten im Schlaf

Nun ist ihm das gelungen. Die kurze Soundsequenz, die er indirekt einem schlafenden Schwefelmaskentyrannen entlockte, klingt nach einem Trillern, wie es Vertretern dieser Spezies bei territorialen Streitereien entfährt:

Gabriel Mindlin / CC-by 4.0

Gleichzeitig mit diesem Triller stellt der Vogel oft den Federkamm an seinem Kopf auf, um noch mehr Eindruck zu schinden – was das Forschungsteam auch bei dem schlafenden Streitvogel beobachten konnte. Für Mindlin war es ein bewegender Moment, erstmals hören zu können, was ein Vogel geträumt hat: "Ich empfand starke Empathie, als ich vorstellte, wie dieser einsame Vogel in seinem Traum einen Revierstreit nachspielt", sagte der Forscher. Das klingt eher nach einem unangenehmen Traum. Indizien für Albträume gibt es jedenfalls auch beispielsweise bei Elefanten, die nach traumatischen Erlebnissen besonders heftig zu träumen scheinen.

"Träume sind einer der intimsten und am schwersten fassbaren Teile unserer Existenz", findet Mindlin. Entsprechend sei es rührend zu wissen, dass der Mensch ähnliche Erlebnisse auch mit entfernt verwandten Arten teilt. "Wir haben mehr mit anderen Arten gemeinsam, als uns normalerweise bewusst ist."

Unwiderstehliche Forschung

Der biomechanische Ansatz öffnet laut Mindlin und seinem Team "ein einzigartiges Fenster im Vogelgehirn" und die Möglichkeit, Muskelaktivität in Verhalten zu übersetzen – und zwar während des Schlafens, also einer Phase, die uns ansonsten kaum zugänglich ist. "Die Möglichkeit, in den Kopf eines träumenden Vogels einzudringen und zu hören, wie dieser Traum klingt, ist eine Versuchung, der man nicht widerstehen kann", sagt der Physiker. Das nächste Ziel soll eine "Übersetzung" des Traums in Echtzeit sein, um sogar mit den schlafenden Vögeln zu interagieren.

Great Kiskadee Calling and Feeding
Great Kiskadee (Pitangus sulphuratus) in Costa Rica. This is a common bird in large parts of Latin America.
Birdfun

Im Englischen wird der Vogel übrigens nach seinem oft dreisilbigen Ruf lautmalerisch Great Kiskadee genannt. In lateinamerikanischen Ländern hört man ihn aber nicht "ki-ska-dee" rufen, sondern beispielsweise "bien te veo", was sich etwa mit "Ich sehe dich gut" übersetzen lässt. Ein passender Name für einen Nachbarn, der territoriale Übertretungen scharf beobachtet – offenbar selbst im Schlaf. (Julia Sica, 18.4.2024)