Lange Zeit hatte Öffentlichkeitsarbeit in Nachrichtendiensten nur sehr wenig Herzinfarktrisiko. Die arge Welt gehört verschriftlicht und in den Tresor. Sich nicht über Pressemappen den Kopf zerbrechen zu müssen, war eine Sorge weniger.

Heute ist die Lage anders. Die CIA macht witzige Beiträge auf X. Der britische Abhördienst GCHQ zeigt sich als braves Linkedin-Mitglied. In Deutschland hat es der BND mit einer originellen Plakatkampagne in die Schlagzeilen geschafft. Und viel Stirnrunzeln hat es unter den "old dogs" gegeben, als kürzlich die Direktoren der Inlandsdienste der "Five Eyes" – diese sagenumwobene Allianz zwischen den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland – gemeinsam im US-Fernsehen zur Hauptsendezeit über die alltäglichen Gefahren des chinesischen Technologiediebstahls plauderten. Offenbar war einmal Schweigen Gold.

Aber spätestens, wenn es ein wegen Russlandspionage festgenommener früherer Verfassungsschützer in einen Sendebeitrag der ZiB Zack Mini für Kinder schafft (5. April 2024), muss man genau hinsehen. Dies gilt nicht nur für Eltern, die zu Hause nun auch noch über das Geheimdienstwesen parlieren müssen, sondern für die offene Gesellschaft und die Politikwissenschaft.

Mit Hans Kelsen für die Nachrichtendienste

Unumstritten ist, dass sich Demokratien gegen verfassungsfeindliche Angriffe von innen und außen wehren können müssen. Das ist die allgemeine Aufgabe der Sicherheitspolitik. Sehr wohl strittig ist, mit welchen Methoden die offene Gesellschaft gegen ihre – sich mehrenden – autokratischen Feinde vorgehen soll.

Beispielsweise plädiert der Gießener Politikwissenschaftler Claus Leggewie im kantigen Gastbeitrag "Der Verfassungsschutz, nutzlos seit eh und je", in der FAZ vom 16.2.2024, gemeinsam mit dem früheren Strafverteidiger Horst Meier, für die Abschaffung des deutschen Verfassungsschutzes. Angesichts der AfD brauche es keinen "Gesinnungs-TÜV", der politische Einstellungen beobachtet. Nötig seien "handfeste Ermittlungen des kriminalpolizeilichen Staatsschutzes gegen mutmaßliche Rechtsbrecher". Parlament und Zivilgesellschaft sind gefragt, nicht ein naiver Glaube an einen "guten" Einsatz verdeckter Mittel gegen die "Bösen".

Hier ziehen Leggewie und Meier den Juristen und Demokratietheoretiker Hans Kelsen heran. Schrieb dieser doch in seinem Essay "Was ist Gerechtigkeit?", dass die Demokratie im Kampf gegen anti-demokratische Kräfte in dem Maße tolerant bleiben soll, "als sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer Anschauungen nicht unterdrückt." Ein bisschen was müssen wir schon aushalten. Richtig, aber wie viel ist erträglich?

Mann mit Hut und Mantel, das Gesicht ist nicht zu erkennen
Spionieren, verschleiern, belauschen, tarnen, täuschen – diese Praktiken standen schon immer in einem Spannungsverhältnis zur Idee der offenen Gesellschaft.
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Hier sei deshalb der andere Kelsen zitiert. "Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, dass sie sich selbst aufgibt", schreibt Kelsen. "Aber es ist das Recht jeder, auch einer demokratischen Regierung, Versuche, sie mit Gewalt zu beseitigen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern". Dass es in der politischen Realität schwierig ist, "eine klare Grenzlinie zu ziehen zwischen der Verbreitung gewisser Ideen und der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes", versteht sich von selbst.

Es ist also an dieser unklaren Grenzlinie, entlang derer dem Staat auch heimliche Methoden der Informationsbeschaffung zur Verfügung stehen. Die Gegner der freiheitlich demokratischen Grundordnung (um beim Beispiel Deutschland zu bleiben) müssen im Sinne der frühzeitigen Gefahrenabwehr identifiziert werden können. Der Schritt von der anti-demokratischen Idee zur anti-demokratischen Gewalt kann groß sein, aber auch ganz klein. Ohne behördliche Frühwarnung mit nachrichtendienstlichen Befugnissen auf dem neuesten Stand der Technologie (sofern grundrechtlich streng und professionell kontrolliert), wären offene Gesellschaften im Blindflug.

Das zweitälteste Gewerbe der Welt aus realpolitischer Sicht

Den Kelsen bei der Frage nach Wesen und Wert von Nachrichtendiensten ins Spiel zu bringen, mag überraschen, gilt seine Staatstheorie doch allgemein als zahnlos und idealistisch – was eben völlig falsch ist. Jedenfalls wird immer gerne "realpolitisch" argumentiert, wenn es um die harte Welt da draußen geht. Es ist halt nur so, dass die Theorie des politischen Realismus nicht wirklich in der Lage ist, gute Antworten zu liefern.

Erstens: Dort, wo die innere und äußere Souveränität eines Staates die höchste Priorität haben, so lautet die realpolitische Kampflinie, muss sich Staatsgewalt nicht rechtfertigen, muss weder moralisch noch juristisch erklären, gegen wen sie wann, wie und warum im In- und Ausland operiert. Der Staatszweck (raison d’état) heiligt die Mittel. Spionage inklusive. Das ist freilich unbefriedigend, wenn man es mit der Idee einer internationalen (Völkerrechts-)Gesellschaft ernst meint.

Zweitens: Das Thema Nachrichtendienste ist gar nicht wirklich auf der Agenda des heutigen Realismus. Dieser ist nach wie vor auf der Schiene des Neo-Realismus à la Kenneth Waltz. Dort werden Staaten als Billardkugeln modelliert, die aufgrund struktureller Treiber unter den Bedingungen der internationalen Anarchie aufeinanderprallen. Es gibt keinen Platz für politische Analyse auf der subsystemischen Ebene. So verbleibt die Frage, welchen Einfluss etwa CIA, GCHQ, BND (oder FSB, MSS, R&AW) auf politische Entwicklungen haben, das glatte Parkett, auf dem sich die Geschichtswissenschaften und der engagierte Investigativjournalismus tummeln.

Wenn allerdings die Spionagetätigkeit mindestens so alt ist wie Sun Tzu oder Kautilya, also eine Konstante im politischen Gemeinwesen, dann braucht es eine politikwissenschaftliche Nachrichtendiensttheorie, die das Materielle (Interessen) und das Soziale (Ideen) geschichtlich verbinden kann.

Nachrichtendienste als Institutionen der internationalen Gesellschaft

Unser Forschungsbeitrag ist, methodisch erstmals die "Englische Schule" (ES) der Internationalen Beziehungen als Erklärungsmodell anzuwenden. Ein längst überfälliger Brückenschlag zur interdisziplinären Nachrichtendienstforschung (intelligence studies) ist damit möglich.

Verkürzt formuliert ist ES-Theorie eine analytische und normative Mittelposition zwischen Realismus und Idealismus. Sie operiert zwischen Hobbes und Kant, ist eine Art Grotianismus. Staaten sind machtgetrieben; manche mögen gar auf eine kosmopolitische Weltgesellschaft hinarbeiten. Jedenfalls gibt es, contra Realismus, keinen Naturzustand, keinen "Krieg aller gegen alle". Vielmehr sehen sich Staaten als Mitglieder einer internationalen Gesellschaft; diese kann in einer guten oder schlechten Verfassung sein. Das heißt, Staaten denken und handeln als sich legitim anerkennende (Völkerrechts-)Subjekte, die ihre Machtbeziehungen über soziale Institutionen regeln: über sogenannte Primär- und Sekundärinstitutionen, also über ganz fundamentale Legitimitätsprinzipien zwischenstaatlichen Handelns sowie mittels konkreter Regime.

Auf den ersten Blick mögen diese ES-Begrifflichkeiten wenig bis gar nichts mit den heimlichen Machenschaften von Nachrichtendiensten zu tun haben. Es ist aber so, dass sich unter den ordnungsstiftenden Ideen und Praktiken solche Prinzipien wie das Souveränitäts- und Territorialprinzip als grundlegende Werte befinden. Konkret werden Diplomatie, Krieg und Großmächte-Management als legitime Institutionen der internationalen Gesellschaft akzeptiert, und vor allem bei diesen drei Primärtypen haben nachrichtendienstliche Abwehr und Aufklärung seit eh und je eine zentrale Rolle gespielt. Spionage ist das zweitälteste Gewerbe, weil es eine akzeptierte Praktik zwischenstaatlichen Handelns ist, eingebettet in ein größeres Normenkorsett.

Konstitutives Element der internationalen Gesellschaft

Daher sind die eingangs erwähnten "Five Eyes" eine besonders interessante Fallstudie. Sie sind eine Sekundärinstitution, deren Ziel es ist, sowohl die nationalen Interessen ihrer fünf Mitglieder zu vertreten (Realismus) als auch die liberale Weltordnung, also eine offene internationale Gesellschaft, so gut und lange es geht aufrechtzuerhalten (Idealismus). Weder Realpolitik noch Institutionalismus können die rund 75-jährige Geschichte, samt Licht und Schatten sowie knallharten materiellen und ideellen Faktoren, adäquat erklären.

Das Elegante an der ES ist, dass sie mittels eines methodischen Rückgriffs auf das hermeneutische Verstehen von weltgeschichtlichen Strukturen, Prozessen und Werten in den internationalen Machtbeziehungen auch die nicht so offensichtlichen institutionalisierten Verhaltensweisen wie Spionage und Nachrichtendienstkooperationen herausarbeiten kann. Anders ausgedrückt: genau dort, wo das Nachrichtendienstwesen die Bereiche innere und äußere Sicherheit, Diplomatie, Krieg und Frieden, Völkerrecht und praktische politische Ethik berührt, braucht es Denkmethoden, wie die ES, welche die Komplexität und die Unschärfen des Stehlens von Geheimnissen und heimliche Beobachten von Menschen sowohl empirisch als auch normativ erfassen und beurteilen kann.

Aus einer theoretischen ES-Perspektive ist das Nachrichtendienstwesen, sowohl Verfassungsschutz als auch die Auslandsaufklärung, ein konstitutives Element der internationalen Gesellschaft, welches gewisse Verhaltensmuster legitimiert, andere nicht. Somit müssen auch die Werte, die mittels Spionagetätigkeit transportiert und reproduziert werden, im jeweils sozial-historischen Kontext erforscht werden. Nachrichtendienstarbeit findet in keinem politischen oder moralischen Vakuum statt, ist nicht wertneutral.

Die nächsten Schritte

Spionieren, verschleiern, belauschen, tarnen, täuschen – diese Praktiken standen schon immer in einem Spannungsverhältnis zur Idee der offenen Gesellschaft. In Zeiten von riesigen Herausforderungen, allen voran Krieg, Krise, Klima und Künstliche Intelligenz, ist es eine politische Entscheidung, wie man Nachrichtendienste rechtlich, budgetär, organisatorisch und personell aufstellt und mit welchen Aufträgen diese ausgestattet werden. Dies setzt theoretische Reflexionen darüber voraus, was ihr Wesen ist – und vor allem, was ihr Wert ist: für die Demokratie in der internationalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. (Robert Schütt, John C. Williams, 22.4.2024)