Udo Jesionek im Büro des Weißen Ring
"Jeder, der ein wenig Ahnung hat, weiß, dass es nichts bringt, wenn man 13-Jährige einsperrt. Man muss kluge Methoden suchen, wie man mit solchen Problemen umgeht": Jurist Udo Jesionek.
Foto: Regine Hendrich

In Anzug und Sneakers kommt Udo Jesionek zum Interview im Weißen Ring. Dort räumt er gerade sein Büro und packt Kisten, weil er die Präsidentschaft übergeben hat und nun als Ehrenpräsident fungiert. Eine Tour d'Horizon mit dem leidenschaftlichen Juristen, Strafrechts- und Justizvollzugsexperten durch Justiz und Gesellschaft.

STANDARD: Sie waren 41 Jahre in der Justiz, davon 20 Jahre Präsident des Jugendgerichtshofs in Wien, der 2003 unter Justizminister Dieter Böhmdorfer (FPÖ) aufgelöst wurde, und bis Jänner Präsident der Opferschutzeinrichtung Weißer Ring. Was war die beste Zeit für Österreichs Justiz?

Jesionek: Zweifellos die unter Christian Broda ...

STANDARD: Lang her, seine Zeit als Justizminister der SPÖ endete 1983.

Jesionek: Ja, schon sehr lange her. Aber damals herrschte Aufbruchstimmung in der Justiz, es gab zudem hohen Nachholbedarf. Deswegen war es natürlich einfacher, große Reformen zu schaffen, als es das heute ist. Damals war aber die Diskussion eine völlig offene, auch im Parlament haben sich Parteien und Minister zusammengerauft. Man muss sich das vorstellen: Die große Strafrechtsreform wurde einstimmig beschlossen, bis auf den Abtreibungsparagrafen, gegen den die ÖVP war. Noch viele einschneidender war die Zivilrechtsreform: Bis dahin galt der Mann als Oberhaupt der Familie, die Frau durfte ohne seine Zustimmung nicht arbeiten gehen oder einen Pass beantragen. Auch diese Reform ging einstimmig durch – bis auf die automatische Auflösung der Ehe nach sechs Jahren Trennung.

STANDARD: Und heute schaffen ÖVP und Grüne die Reform des Weisungsrechts in der Justiz nicht, Stichwort Bundesstaatsanwalt.

Jesionek: Damals hat man halt lang diskutiert und viel miteinander gesprochen, die jetzige Feindseligkeit gab es nicht. Heute bringt Justizministerin Alma Zadić (Grüne, Anm.) einen Entwurf, und Ministerin Karoline Edtstadler (ÖVP, Anm.) ist automatisch dagegen – und vice versa. Wobei ich Ministerin Zadić dafür bewundere, dass sie sich auch um unpopuläre Dinge kümmert wie die Reform des Maßnahmenvollzugs. Der kratzt niemanden und bringt keine Stimmen.

Anwalt und Exjustizminister Dieter Böhmdorfer
Unter dem freiheitlichen Justizminister Dieter Böhmdorfer wurde der Jugendgerichtshof (JGH) in der Rüdengasse in Wien-Landstraße zugesperrt. Gericht und Haftanstalt (für Burschen), genannt "Rüdenburg", waren in einem Komplex untergebracht.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Haben Sie Böhmdorfer, unter dessen Ministerschaft der Jugendgerichtshof in der Wiener Rüdengasse zugesperrt wurde, später je gefragt, warum er ihn zusperren ließ?

Jesionek: Nein, das habe ich nie gefragt. Es war eine fixe Idee von ihm, den Jugendgerichtshof zuzusperren, der war ihm offenbar auch zu teuer. Dabei war der Jugendgerichtshof ein internationaler Mustergerichtshof, sogar Japaner kamen, um sich den anzuschauen. Aber die ÖVP hat der FPÖ die Justiz als ihre Spielwiese überlassen, die Justiz interessiert ja kaum jemanden. Bei der Regierungsbildung steht das Justizministerium immer an allerletzter Stelle des öffentlichen Interesses. Wissen Sie, Böhmdorfer ist ein hochintelligenter Mensch, nur fehlt ihm jegliche soziale Kompetenz.

STANDARD: Zurück zu den ausstehenden Reformen: Sind Sie für die Einsetzung eines Bundesstaatsanwalts?

Jesionek: Ich bin für ein unabhängiges Gremium aus drei Personen. Denn wird nur ein Bundesstaatsanwalt vom Parlament bestellt, entsteht ja wieder Abhängigkeit von der Politik. Mit einem Gremium bekäme man die Vorwürfe von politischer Intervention vom Tisch.

STANDARD: In der Ära von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wurde die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) massiv angegriffen. Die schwarz-grüne Regierung hat ein Jahr lang den Chefposten des Bundesverwaltungsgerichts nicht besetzt. Die Erstgereihte wurde dann nicht genommen, sondern der Drittgereihte. Ist nicht auch so etwas Beeinflussung der Justiz?

Jesionek: Die Parteiinteressen spielen eine zu große Rolle. Jene, die Ermittlungen betreffen, reagieren sauer, und zuletzt betrafen die Korruptionsvorwürfe eben ÖVP-Politiker. Ich habe den Eindruck, dass der ÖVP die Unabhängigkeit der Justiz immer ein wenig ein Dorn im Auge war. Und jetzt kommt halt gerade viel hoch, es gibt U-Ausschüsse, und jeder schwärzt jeden an.

STANDARD: Haben Sie in Ihrer Zeit viele politische Interventionen in der Justiz mitbekommen?

Jesionek: Ich kann mich an keine erinnern.

STANDARD: Broda war berühmt für seine vielen Weisungen.

Jesionek: Broda war eine zwiespältige Persönlichkeit. Er hat auch Psychiater und Gutachter Heinrich Gross geschützt, was ich nicht verstehe. (Anklage wegen des Vorwurfs von "Euthanasie"-Morden in der NS-Zeit wurde erst 1997 erhoben, verhandelt wurde gegen Gross wegen Verhandlungsunfähigkeit nie. Gross starb 2005, Anm.)

STANDARD: Sie haben mit Gross eine juristische Fachzeitschrift herausgegeben.

Jesionek: Ja, solange ich nichts von seiner Vergangenheit wusste. Danach hab ich den Kontakt zu ihm sofort abgebrochen. Aber Broda selbst hat einmal gesagt, jeder Mensch sei eine Mischung aus Doktor Jekyll und Mister Hyde. Da hatte er nicht ganz unrecht: Einmal kommt das eine, ein anderes Mal das andere mehr heraus. Jedenfalls war Broda ein Visionär, und es ist damals sehr viel weitergegangen in Justiz und Gesellschaft.

Christian Broda, Justizminister bis 1983
Christian Broda setzte große Justizreformen um. Justizminister war er von 1960 bis 1966 und dann wieder von 1970 bis 1983. Vier Jahre später ist er gestorben.
Foto: Barbara Pflaum / brandstaetter images/picturedesk

STANDARD: Ist die Justiz unserer heutigen Gesellschaft überhaupt wichtig?

Jesionek: Ich glaube nicht. Die Leute assoziieren mit Justiz immer nur die Strafjustiz, obwohl die Ziviljustiz ihr Leben viel mehr bestimmt. Man sollte ihr Interesse und Verständnis für die Justiz wecken.

STANDARD: Wenn etwas passiert, ist das Interesse aber da: Gerade wird, nach der mutmaßlichen Vergewaltigung einer Zwölfjährigen durch unter 14-Jährige, die Absenkung der Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre gefordert, auch von der ÖVP. Experten sind dagegen, Sie auch. Weil Wegsperren nicht hilft?

Jesionek: Das ist eine dumme Diskussion. Jeder, der ein wenig Ahnung hat, weiß, dass es nichts bringt, wenn man 13-Jährige einsperrt. Man muss kluge Methoden suchen, wie man mit solchen Problemen umgeht. Die Leute haben die Illusion, dass neue Gesetze das Problem beseitigen. Dabei ändern neue Gesetze die Verhältnisse gar nicht. Kinder gehören nicht eingesperrt. Wegsperren allein, ohne Begleitmaßnahmen, ist dumm. Wir müssen versuchen, die Kinder aufs Leben vorzubereiten, ihnen zu helfen. In vielen Fällen ist ihnen schon so viel Unrecht geschehen, dass ihre Straffälligkeit nur ein Ausdruck all dessen ist. Nur wenn es mit Begleitung draußen gar nicht geht, muss man sie einsperren – dann wären sie aber ohnedies schon alt genug.

STANDARD: In der Schweiz beginnt die Strafmündigkeit mit zehn Jahren. Eingesperrt wird dort aber auch nicht gleich.

Jesionek: Nein, frühestens mit 16. Vorher kümmern sich Teams aus Richtern, Staatsanwälten, Sozialarbeitern, Psychologen um die Kinder. So haben wir es auch am Jugendgerichtshof gehalten, und es hat geklappt. Man muss den Kindern Selbstbewusstsein geben, und dazu gehört auch Bildung. Am Jugendgerichtshof haben wir eine Pflichtschule eingerichtet, die sie bis zum 18. Lebensjahr absolvieren konnten. Ich habe Jugendlichen aber auch ermöglicht, den Mopedführerschein zu machen – denn sie fuhren ja sowieso Moped, da sollten sie es wenigstens können. Da haben wir dann eine Feier mit Cola und Würsteln gemacht, ich habe ihnen die Führerscheine überreicht, die sie danach wieder abgeben mussten. Das klingt so simpel, aber es geht einfach darum, Selbstbewusstsein zu schaffen. Wenn Kinder Selbstbewusstsein und Erfolgserlebnisse haben, können sie das Leben meistern.

STANDARD: Viele fordern nun, dass man auch die Eltern strafen soll, wenn Kinder Straftaten begehen. Brächte das was?

Jesionek: Strafen, strafen, natürlich kann man immer strafen. Die Leute glauben, dass Strafen abschrecken. Aber die meisten Taten geschehen ja nicht geplanterweise, sondern werden aus der Emotion heraus begangen. Im Moment der Tat denkt man ja nicht daran, dass man dafür zur Verantwortung gezogen werden kann.

STANDARD: Sagen Sie deswegen, Sie trauen jedem Menschen einen Mord zu, aber nicht jedem einen Einbruchsdiebstahl?

Jesionek: Ja, Straftaten entstehen aus Ausnahmesituationen. Außerdem: Einbrechen muss man auch können.

STANDARD: Warum kommt es so gut an, wenn die Politik trotzdem nach höheren Strafen ruft?

Jesionek: Offenbar spricht es das individuelle Rachebedürfnis und die Strafbedürftigkeit der Leute an – und es entspringt der Hilflosigkeit: Den Politikern fällt nichts Besseres ein. Man kann Kriminalität nicht verhindern. Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik. Es gibt Staaten mit sehr rigider Strafjustiz und hoher Kriminalität wie die USA, und solche mit liberaler Justiz und wenig Kriminalität. Denn Kriminalität ist in erster Linie eine Frage der sozialen Situation; je besser die ist, desto geringer ist die Kriminalität.

STANDARD: Eine gute Arbeitsmarktpolitik gehört da wohl auch dazu?

Jesionek: Ja. Schauen Sie nur die jungen Leute an, die ins Land kommen, ohne Schulbildung, ohne lesen oder schreiben zu können. Sie haben keine Chance auf einen Job, keine Chance auf ein sicheres Leben. Die müssen frustriert sein, und irgendwann schlagen sie jemanden nieder. Ich verstehe nicht, warum man diese Leute nicht arbeiten lässt, denn Arbeit und eigenes Geld würden ihr Selbstbewusstsein heben. Das würde helfen, die Kriminalität zu senken.

STANDARD: Wissen alle Strafrichterinnen und Strafrichter eigentlich, wie es in den Gefängnissen zugeht?

Jesionek: Ich glaube, dass zu viele Richter viel zu wenig Kontakt zu Häftlingen haben, dabei erfährt man so viel von ihnen: über ihr Leben, ihre Situation, ihr Motive. Dieses Wissen ist wichtig, denn Richter kommen üblicherweise aus einer bürgerlichen Familie und müssen über Metiers entscheiden, die sie nicht kennen. Mir war dieser Kontakt immer sehr wichtig. Ich habe einmal einen Vorbestraften zu zehn Jahren Haft verurteilt, er hat mir während dieser Zeit immer wieder geschrieben, ich hab ihm geantwortet, und als er dann raus war, hat er mich besucht. Da habe ich ihn gefragt, warum er sich denn ausgerechnet bei mir immer wieder gemeldet hat, obwohl ich ihn doch verurteilt hatte. Seine Antwort: "Sie sind der Erste in meinem Leben, der mich als Mensch behandelt hat." Es ist doch entsetzlich, dass es Leute gibt, die immer nur Ablehnung erfahren.

Frühere Heimkinder im Historischen Sitzungssaal des Parlaments. Die Republik entschuldigte sich für den Missbrauch, der ihnen widerfahren war.
In einer "Geste der Verantwortung" entschuldigte sich die Republik Österreich am 17. November 2016 bei Missbrauchsopfern in Kinderheimen. Die Veranstaltung fand im Historischen Sitzungssaal im Parlament statt.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Der Weiße Ring, den Sie mitbegründet haben, war in die Entschädigung der Wiener Heimkinder eingebunden. Warum hat Österreich die ihm anvertrauten Kinder in den Heimen so schlecht behandelt?

Jesionek: Ich weiß es nicht, aber es war schrecklich in den Heimen. Da war kein geschultes Personal tätig, und wenn Menschen die Möglichkeit haben, sich auszutoben, ohne Folgen fürchten zu müssen, dann lassen sie sich offensichtlich gehen. Und die Täter wussten, dass sie sakrosankt sind: Den Kindern hat ja keiner geglaubt, wenn sie vom Missbrauch erzählten. Es ist ja auch unglaublich, was Klosterschwestern in den Heimen oder Patres und Priester aufgeführt haben. Und dass die Behörden auf all das nicht draufgekommen sind, ist eine Schande.

STANDARD: Die Republik hat sich 2016 in einem nie da gewesenen Akt imParlament bei den früheren Heimkindern entschuldigt. Wie wichtig sind Entschuldigungen für Opfer?

Jesionek: Das Wichtigste für die Opfer ist, dass man ihnen glaubt, das Unrecht eingesteht und sich dafür entschuldigt.

STANDARD: Warum fällt es manchen so schwer, sich zu entschuldigen?

Jesionek: Auch das ist eine Frage des Selbstbewusstseins. Wer einigermaßen gefestigt ist, entschuldigt sich leichter. Ich verstehe auch nicht, warum Politiker nicht öfter Verantwortung übernehmen; ich selbst habe für mich immer das Recht auf Blödheit und Irrtum in Anspruch genommen. Und hoffentlich aus meinen Irrtümern gelernt. (Renate Graber, 14.4.2024)