Immer mehr Flüchtlinge und Migranten kommen auf den Kanarischen Inseln an.
Immer mehr Flüchtlinge und Migranten kommen auf den Kanarischen Inseln an.
IMAGO/Europa Press/ABACA

In Sachen Flucht und Migration nach Europa tut sich wieder einiges: Die EU hat einen Milliardendeal mit Ägypten fixiert und nach jahrelangen Verhandlungen endlich ein umfangreiches Maßnahmenpaket beschlossen. Gleichzeitig verzeichnet Zypern seit Wochen außerordentlich viele Ankünfte, während das wichtige afrikanische Transitland Niger ein Migrationsabkommen mit der EU ausgesetzt hat. Vincent Cochetel, Sonderbeauftragter für das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in der Mittelmeerregion, erklärt im STANDARD-Interview, welche Routen nach Europa derzeit besonders beliebt sind und welches Problem die EU am dringendsten lösen muss.

STANDARD: Im vergangenen Jahr kamen mit mehr als 270.000 Ankünften so viele Menschen über das Mittelmeer wie seit den großen Flucht- und Migrationsbewegungen 2015/16 nicht mehr. Was erwartet uns heuer?

Cochetel: Wir erwarten insgesamt weniger Ankünfte, die Situation ist aber sehr veränderlich. Über Tunesien sind die Einreisen bislang zurückgegangen, dafür sind sie vom Libanon nach Zypern gestiegen. Und von Westafrika sind mehr Menschen auf die Kanarischen Inseln gereist. Auf der anderen Seite gab es in den ersten drei Monaten dieses Jahres einen Rückgang von 49 Prozent auf der zentralen Mittelmeerroute.

STANDARD: Wieso die Kanaren?

Cochetel: Die politische Krise im Senegal hat schon Ende letzten Jahres und auch zu Beginn dieses Jahres zu vermehrten Abfahrten in Richtung Kanaren geführt. Gleichzeitig sehen wir, dass die Situation in Mali und Burkina Faso immer schlechter wird und die Menschen flüchten.

Der Standard

STANDARD: Und wieso Zypern?

Cochetel: Das sind vor allem Syrer, die sich vom Libanon aus auf den Weg machen. Sie bekommen dort wenig Unterstützung, dem Libanon geht es auch wirtschaftlich schlecht, also wagen sie den Weg über das Mittelmeer. Der Gazakrieg und die Spannungen zwischen Israel und dem Libanon spielen aktuell vermutlich keine Rolle.

STANDARD: Was hat den Rückgang auf der zentralen Mittelmeerroute bewirkt?

Cochetel: Sicher die Unterstützung der EU für die tunesische Küstenwache. Hier gab es im ersten Quartal 2024 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Rückgang von 59 Prozent. Die tunesischen Behörden verhindern verstärkt die Abfahrten von ihren Küsten. Auch von Ägypten gibt es kaum Abfahrten. Viele Ägypter und Sudanesen gehen von dort nach Libyen, um Arbeit zu finden oder die Weiterreise nach Europa zu wagen. In Libyen ist die Lage für Flüchtlinge und Migranten seit Jahren unverändert schlecht, vor allem in den Internierungslagern.

STANDARD: Ist auch die restriktive Politik von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein Grund für den Rückgang?

Cochetel: Jein. Italien hatte letztes Jahr wie andere EU-Länder sehr viele Ankünfte registriert, vor allem aus Tunesien. Es hat deshalb einige restriktive Maßnahmen gesetzt. Gleichzeitig ist es aber auch eines der wenigen Länder, das legale Einreisewege für Flüchtlinge geschaffen hat, unter anderem aus Libyen.

STANDARD: Italien will ja noch heuer Flüchtlingslager in Albanien bauen, die britische Regierung arbeitet weiterhin daran, Asylwerber nach Ruanda ausfliegen zu dürfen. In dem vergangene Woche beschlossenen Asyl- und Migrationspaket der EU ist die Option enthalten, Asylwerber mit negativem Bescheid in Drittstaaten abschieben zu dürfen. Wird das zu weniger Ankünften führen?

Cochetel: Es ist ja nicht das erste Mal, dass eine solche Reform beschlossen wurde. Ich hoffe, das EU-Paket wird diesmal umgesetzt und funktioniert, ansonsten werden die EU-Staaten zu Maßnahmen greifen, die mit internationalem Recht nicht vereinbar sind. Was Italien betrifft, so ist der Plan anders als der britische. Für die Menschen, die nach Albanien geschickt werden, gilt dort weiterhin italienisches Asylrecht. Wer einen positiven Bescheid erhält, kommt nach Italien zurück. Das alles ist beim britischen Ruanda-Plan nicht angedacht. Ob der italienische Plan funktioniert, wird man sehen. Europa muss Lösungen finden, um den Druck auf seine Außengrenzen zu minimieren. Das bedeutet auch, mehr Abschiebungen zu ermöglichen.

Viele sagen, das europäische Asylsystem sei kaputt. Es ist auf alle Fälle in vielen Teilen Europas dysfunktional, weil viele Menschen im Asylsystem sind, die dort nicht hingehören. Sie haben keinen Anspruch auf Schutz, sie sollten in die Heimat zurückgebracht werden. Doch viele Herkunftsländer lassen das nicht zu. Ich bin mir nicht sicher, ob das EU-Paket dieses Problem lösen kann, wir werden sehen. Und was Italiens Plan betrifft: Wieso soll Albanien schaffen, woran die EU scheitert, nämlich Menschen mit negativem Bescheid in die Heimat rückzuführen?

Vincent Cochetel: "Es ist weiterhin schwierig für NGOs."
©UNHCR/Susan Hopper

STANDARD: Die EU hat Abkommen mit Tunesien und zuletzt mit Ägypten erzielt, um die Abreisen von dort nach Europa zu reduzieren. Bekommt man damit die Flucht- und Migrationsbewegungen in den Griff? Sie haben ja bereits gesagt: Die Kooperation hat zu weniger Abreisen aus Tunesien geführt.

Cochetel: Es ist im Interesse der EU, Staaten in Afrika zu stärken, die von diesen Bewegungen betroffen sind. In Ägypten etwa leben derzeit etwa fünf Millionen Menschen aus dem benachbarten Sudan, die vom Bürgerkrieg geflohen sind. Ägypten macht viel, um sich um die Flüchtlinge und Migranten im Land zu kümmern, es ist wichtig, das Land dabei zu unterstützen. In Tunesien ist es anders, dort leben nicht sehr viele Flüchtlinge. Bei diesem Abkommen ist auch nicht enthalten, die Rechte dieser Menschen in Tunesien zu verbessern. Sie dürfen nicht arbeiten, sie haben kein Recht auf eine legale Bleibe. Wenn die EU Vereinbarungen mit solchen Ländern abschließt, ist es aber wichtig, die Lebensbedingungen für Flüchtlinge und Migranten zu verbessern, sonst werden sich diese wieder auf den Weg machen, vor allem nach Europa.

STANDARD: Was Kooperationen betrifft, hat die Putschregierung in Niger das Migrationsabkommen mit der EU im November ausgesetzt. Sind die Konsequenzen schon spürbar? Niger ist ja ein sehr wichtiges Land auf dem Weg nach Europa.

Cochetel: Es gibt bereits wieder mehr Bewegung von Niger nach Libyen. Die meisten sind Bürger von Niger, die in Libyen arbeiten wollen und kein Interesse haben, das Mittelmeer zu queren. Viele sind aber auch Menschen aus Mali und anderen westafrikanischen Staaten, die nach Europa gelangen wollen. So sehr man Niger dafür kritisieren kann, seine Politik in Sachen Migration geändert zu haben, muss man aber auch sagen, dass das Land sich weiterhin um hunderttausende Flüchtlinge aus beispielsweise Mali, Burkina Faso, Nigeria oder Tschad kümmert.

STANDARD: Im Mittelmeer sind weiterhin NGO-Rettungsschiffe im Einsatz. Im März gab es Bedrohungen durch die libysche Küstenwache, außerdem setzen Italiens Behörden NGO-Schiffe immer wieder in Häfen fest. Wie ist die aktuelle Lage für diese Hilfsorganisationen?

Cochetel: Es ist weiterhin sehr schwierig für sie. Man darf nicht vergessen: Es gibt keine fixen Such- und Rettungsmissionen im Mittelmeer, dieses Vakuum füllen die NGOs, um den humanitären Imperativ umzusetzen und Leben zu retten. Was sollen wir unseren Kindern einmal sagen: Wir haben diese Menschen sterben lassen, obwohl wir sie hätten retten können? NGOs sollten keine Zielscheibe sein und kriminalisiert werden, Leben zu retten sollte höchste Priorität haben. Und dann sollte endlich eine Lösung dafür gefunden werden, was mit diesen geretteten Menschen passiert. (Kim Son Hoang, 18.4.2024)